Krebsschleife © Foto: Miguel Á. Padriñán/ Pexels
Der Schein meines Lebens

Wie kostbar ein 20-Euro-Schein manchmal sein kann

von Jonas Rüffer

Im Laufe unseres Lebens bekommen wir diesen einen Schein, diesen bestimmten Betrag. Den uns jemand schenkt, den wir finden, gewinnen oder den wir jemandem abluchsen – und an den wir uns für immer erinnern, weil er uns gerettet, berührt oder beschämt hat. Hier erzählen regelmäßig Menschen die Geschichte vom Schein ihres Lebens. Heute: 20 Euro und ein mitmenschliches Gefühl.

Das Leben kann hart sein und Dich manchmal in die Knie zwingen. Jaja, denke ich dann immer, wenn ich solche Pseudoweisheiten lese. Mir kann das Leben gar nichts. Bis ich dann an einem Wintermorgen vor dem Zimmer des Chefarztes im Krankenhaus sitze, alleine, weil ich alleine fahren wollte, weil alles gut gehen würde, weil ich doch so hart bin und das Leben mir gar nichts abkann. Woher dann die Tränen kommen, dieses unkontrollierte Wimmern, ich weiß es nicht.

Es ist kurz nach zehn. Reiß dich zusammen, es ist gutartig, sage ich mir, bis ich zu schluchzen anfange und entscheide, dass mich so niemals eine Menschenseele sehen sollte. Es ist viertel nach zehn. Ich sperre mich in eine Klokabine, sammele mich wieder, schaue dann am Spülbecken in den Spiegel und fange wieder an zu weinen. Ja, ich bin definitiv zu jung, um zu sterben.

Fick dich, Leben, das ist unfair, flüstere ich meinem Spiegelbild zu und fange wieder an zu weinen. Die Tür geht auf, und eine ältere Dame betritt die Damentoilette, ihr Blick bleibt an mir hängen.

Oh, meine Liebe, sagt sie. Alles in Ordnung bei Ihnen? Wen begleiten Sie? Ist es die Oma?

Nein, nein, nein, will ich ihr entgegen schreien und schluchze ihr vor, dass ich es bin. Es geht um mich.

Um Gottes Willen, flüstert sie und umarmt mich.

Wer mich denn begleiten würde, fragt sie. Niemand, sage ich.

Um Gottes Willen, warum denn niemand?

Es ist schon nichts Schlimm-, Schlimmes, be-bestimmt gut-gutartig, stammle ich ihr vor. Will niemanden belasten. Ich hasse nur das Warten … Frage sie, weshalb sie drei Tage vor Weihnachten noch im Krankenhaus ist.

Mein Mann, antwortet sie. Er ist alt.

Ja, denke ich mir. Hier sind alle alt. Ich bin jung. Ich will nicht sterben.

Ich bedanke mich bei der älteren Dame und gehe zurück, es ist schon fast halb elf.

Setze mich vor die Tür des Chefarztes und weine wieder los.

Ich sehe die ältere Dame am Ende des Ganges stehen, kurze Zeit später kommt eine Krankenschwester den Flur entlang und setzt sich zu mir.

Du solltest jetzt nicht alleine sein, sagt sie mir. „Die ältere Damen hat es mir erzählt.“ Die Tür des Chefarztes geht auf, er bittet mich herein. Ich will da nicht hinein. Ich will das alles nicht. In drei Tagen ist Weihnachten. Morgen schreibe ich meine letzte Prüfung an der Uni. Ich will das alles nicht. Widerwillig folge ich ihm in sein Zimmer und höre, wie er sagt, dass er immer noch nicht sicher ist, ob es Krebs sei, dass er mich in ein Spezialklinikum schicken möchte, dass er aber vorher noch einmal mit Kontrastmitteln einen Ultraschall durchführen wird. Ich folge ihm. Lege mich wieder hin. Ziehe mein Oberteil hoch. Zwei Oberärzte kommen dazu. Überlege, ob mein Bauch dicker geworden ist. Dann, wie die letzten dreizehn Male. Luft anhalten. Das kalte Kontrastmittel durch meine Adern fließen lassen. Einatmen, ausatmen, nichtatmen. Einatmen, ausatmen, nichtatmen. Die Ärzte starren gespannt auf den Monitor und sagen nichts. Es ist viertel nach elf, als ich mit dem trockenen Papiertuch versuche, das Ultraschalgel von meinem Bauch wegzuwischen. Nützt ja nichts. Bleibt trotzdem immer was übrig und dann kann ich mein Oberteil wieder in die Waschmaschine stecken.

Ich verlasse das Behandlungszimmer. Ich verlasse die Station, fahre mit dem Fahrstuhl runter und bin fast draußen, als jemand an meinem Arm zieht. Die ältere Dame. Und wie ist es ausgegangen? Ich erzähle ihr von den vorerst guten Nachrichten und der Spezialklinik. Sie umarmt mich und sagt, dass sie für mich beten wird. Dass sie für mich gebetet hat und drückt mir einen goldenen Engel in die Hand. „Das habe ich gerade von der Krankenhaus-Kapelle geholt.“

Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Sage, dass ich das nicht annehmen kann, da holt sie noch einen 20-Euro-Schein aus ihrer Jackentasche. „Frohe Weihnachten, kauf dir damit etwas, was dich an heute erinnern wird.“ Nach langem Hin und Her gibt sie mir dann ihre Adresse, damit ich ihr wenigstens später eine Postkarte schicken kann. Ich umarme sie, wünsche ihr, dass sie Weihnachten vielleicht doch schon zu Hause mit ihrem Ehemann feiern kann und verlasse das Krankenhaus, in der rechten Hand festumklammert, der goldene Engel.

Das Leben kann hart sein und Dich manchmal in die Knie zwingen. Ja, denke ich nun immer, wenn ich solche Pseudoweisheiten lese, und denke an den Wintermorgen im Krankenhaus.

Farnaz Nasiriamini, Friedrichshafen, www.alphafehler.com

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ein Artikel von
Jonas Rüffer
Jonas Rüffer (Jahrgang 1991), ist seit Februar Teammitglied der Zasterredaktion. Vorher hat er seinen Master in Politik abgeschlossen. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit Servicethemen wie Kryptowährungen oder Geld- und Finanzpolitik.