© Randy Laybourne / Unsplash
Der Blick aus Zürich

Deutsche Ordnungspolitik auf Irrwegen

von Mikey Fritz

Die deutsche Politik wird von der Realität eingeholt. Die deutsche Chemie war einst das Juwel der Wirtschaft. Inzwischen ist die Branche nur noch ein Schatten seiner selbst, was sich auch in den fallenden Kursen und niedrigen Bewertungen an der Börse widerspiegelt. Doch der Verfall ist hausgemacht. Weltweit boomt die Chemie und widerlegt die deutsche Ordnungspolitik. 

Am Beispiel der deutschen Kunststoffindustrie wird das Dilemma sichtbar. In einem ersten Schritt hatte die deutsche Politik ein umfassendes Rahmenwerk geschaffen, dass das Recycling von Kunststoff obligatorisch gemacht hat, was künstlich einen komplett neuen Industriezweig schuf, zulasten der Kunststoffproduktion, die dadurch ausgebremst wurde. Der Erfolg: Die Recyclingquote in Deutschland erreicht inzwischen ein Niveau von mehr als 65 %. 

Dann wurden für die Kunststoffbranche die Energiekosten, Bürokratie, Regulierung und die Steuer- und Abgabenlast sukzessive erhöht. Eine Klageschrift, der sicherlich viele Unternehmen sofort zustimmen, aber bei der Kunststoffbranche ist es besonders brenzlig, da die Margen schon durch den erheblichen Wettbewerb aus dem Ausland geschwächt waren. Aktuell gehen 77 % der Kunststoffunternehmen in Deutschland davon aus, dass sich der Geschäftsumfang in Zukunft verringern und die Zahl der überlebensfähigen Unternehmen weiter schrumpfen wird. Doch über was reden wir hier eigentlich genau? 

Kunststoffindustrie beschäftigt 375.000 Menschen in Deutschland

Mehr als 3.000 Unternehmen arbeiten heute in Deutschland in der Kunststoffindustrie. Und beschäftigen dabei etwa 375.000 Menschen. Die meisten Unternehmen zählen zum Mittelstand und sind Teil des Rückgrats der deutschen Wirtschaft. Die kunststofferzeugende und -verarbeitende Industrie ist in Deutschland sehr stark vertreten. Es ist keine Industrie, die es sich erlauben kann auf einem hohen Ross zu sitzen, denn die Profitabilität ist vergleichsweise gering. Aber die Produkte sind sehr vielfältig, reichen von einfachsten Qualitäten und Anwendungsbereichen bis hin zu Hochleistungsmaterialien, bei denen Deutschland weltweit marktführend ist. 

BASF ist mit Abstand der bekannteste Name in der Branche. Das Produktportfolio des Konzerns geht natürlich weit über den Kunststoff hinaus, aber innerhalb der Kunststoffbranche sind die Ludwigshafener sowohl im Bereich der Produktion als auch der Verarbeitung ganz vorne dabei. Neben BASF zählen auch die private Röchling Group und Rehau Group zu den wichtigsten Vertretern und arbeiten vor allem für die Automobilindustrie, den Bau, die Medizin und für allgemeine Industrieanwendungen. 

Dass es einem kleinen oder mittleren Unternehmen mal schlecht geht, das gehört dazu. Auch kann man es nicht verhindern, dass Branchen sich mit der Zeit verändern oder ganz aufhören eine Berechtigungsgrundlage zu haben. Doch das ist in diesem Fall nicht so. Die globale Kunststoffbranche boomt und die Nachfrage ist sehr hoch.

Globaler Marktanteil mehr als halbiert

Die europäische Kunststoffindustrie hatte 2006 noch einen globalen Marktanteil von 28 %. Im Jahr 2023 ist dieser Anteil auf nur noch 12 % geschrumpft. Deutschland ist dabei innerhalb Europas das Schwergewicht der Kunststoffbranche und bekommt entsprechend stark die Folgen des Rückgangs zu spüren. Konkret ist die Kunststoffproduktion allein im vergangenen Jahr um -8,3 % gefallen. Und selbst die Aktivitäten im Bereich des Recyclings von Kunststoff sind im Jahr 2023 zum ersten Mal seit 2018 geschrumpft. Der Einbruch des Recyclinggeschäfts ist sogar so stark, dass die Branchenvertreter von einer kommenden Insolvenzwelle ausgehen. 

Die globale Kunststoffproduktion ist 2023 hingegen um 3,4 % gewachsen. Es sind vor allem die USA und China, die ihre Marktanteile zulasten Europas und Deutschlands ausbauen. Dank sehr niedriger Energiekosten und eines erheblich geringeren Regulierungsgrades können die Branchen in den beiden Ländern Kunststoff so günstig produzieren und verarbeiten, dass es sich für Europäer kaum noch rechnet, recycelten Kunststoff aus der heimischen Verarbeitung zu kaufen. Die Industriezweige, die die größten Käufer von Kunststoffen sind, weichen daher im Einkauf auf nicht-europäische Quellen aus, die deutlich preiswerter sind. 

Verfehlte Ordnungspolitik

Das macht ordnungspolitisch keinen Sinn. Unter dem Strich hat die europäische und deutsche Politik dazu geführt, dass die heimische Kunststoffindustrie verkleinert wurde, indem so viele Hürden künstlich aufgebaut wurden, dass sich der Geschäftsbetrieb in vielen Fällen nicht mehr lohnt oder nur in einem verringerten Umfang. Am Kunststoffverbrauch ändert sich jedoch nichts, da das universell einsetzbare Material unverzichtbar ist. Die Veränderung ist lediglich, dass der Kunststoff heute nun verstärkt aus Quellen im nicht-europäischen Ausland eingekauft wird, deren Standards sich weder überprüfen, kontrollieren oder beeinflussen lassen.  

Was macht die Börse daraus? Der ist es grundsätzlich egal, wo die Chemiebranche produziert. Hauptsache die Produkte werden bei einer vergleichbaren Qualität preiswerter als bei der Konkurrenz hergestellt. Einen „Deutschland-Bonus“ oder „Europa-Bonus“ gibt es nicht. Beschließt BASF beispielsweise, dass man die Präsenz im Heimatmarkt reduzieren wird, ist das für die Börse eine einmalige Sonderbelastung. Mittelfristig hat es keine Konsequenzen, denn der Chemiekonzern baut im Zweifel da ein neues Werk und schafft neue Arbeitsplätze, wo man willkommen ist und ersetzt damit die in Deutschland weggefallene Produktion. So wie aktuell in Zhanjiang, China. Anders sieht es für die Mitarbeiter am Hauptsitz in Ludwigshafen, in Hürth-Knapsack und Frankfurt aus, für die die Entwicklung keine einmalige Sonderbelastung, sondern im Zweifel eine Dauerbelastung ist. 

Lass dich von der Erfahrung der Zürcher Börsenbriefe überzeugen und werde Teil des Erfolgs. Teste die Zürcher Börsenbriefe noch heute mit einem exklusiven Rabatt von 30 % auf den regulären Preis für die ersten drei Monate.

image_print
ein Artikel von
Seit mehr als 25 Jahren arbeitet Mikey Fritz an der Börse. Seine Karriere begann er als Wirtschaftsredakteur für die n-tv „Telebörse“. Es folgte die Gründung der FM Research in Berlin, welche Privatkunden und institutionelle Kunden mit eigenem Kapitalmarkt-Research beriet. Vor 15 Jahren setzte er einen neuen Schwerpunkt auf das Portfoliomanagement bei großen Vermögensverwaltern in der Schweiz und Deutschland sowie auf die Beratung von Finanzinstituten. Die Redaktion des Zürcher Finanzbriefes ist und bleibt aber sein Steckenpferd.