Fest steht: Die im Kurs eingepreiste Erwartungshaltung der Anleger ist immer die wichtigste. Denn sie entscheidet darüber, wie es mit den Aktien weitergeht, nachdem die Fakten für das abgelaufene Quartal und die neue Prognose für die nächste Periode auf den Tisch gelegt werden.
Die Prognosen der Unternehmen haben ebenfalls eine hohe Bedeutung, denn wie diese gehandhabt werden, spielt für die Zukunft des Aktienkurses eine überragende Rolle. Was die Börse liebt, sind Unternehmen, die niedrige Erwartungen aufbauen und diese dann regelmäßig schlagen. Liefert ein Unternehmen immer und immer ein Understatement ab und schlägt dieses dann letztlich, werden die Anleger mit der Zeit so konditioniert, dass sie beginnen, für die Zukunft immer mit positiven Überraschungen zu rechnen und diese auch einzupreisen.
Die schlechteste Guidance ist keine Guidance. Man könnte davon ausgehen, dass eine verfehlte Guidance das Worst-Case-Szenario ist, und sicherlich führt sie auch regelmäßig zu Kursabschlägen, aber worauf Anleger am stärksten mit zusätzlichen Risikoprämien im Kurs reagieren, ist, wenn ein Unternehmen keine Guidance ausspricht. Denn wird keine Orientierung geliefert, orientiert sich der Kapitalmarkt immer nach unten. Zu Recht, denn Unternehmen halten (fast) nie mit guten Nachrichten hinter dem Berg.
Keine Guidance ist die schlechteste Guidance
Die geringste Bedeutung kommt den Analystenschätzungen zu. Das hat gleich mehrere Gründe. So haben die Analysten meistens nichts zu verlieren, weil sie nicht in den Unternehmen engagiert sind, die sie analysieren. Entsprechend ist ihr Risikoprofil sehr viel geringer als das der Anleger oder des Unternehmens, wenn die Erwartung nicht erfüllt wird. Ohne Zweifel ergibt sich mit der Zeit ein Reputationsschaden, wenn ein Analyst immer daneben liegt, aber dieser ist geringer, als man annehmen möchte, denn selbst die Spitzen-Analysten liegen im Durchschnitt nur mit 75 % der Analysen richtig.
Auch muss man bedenken, dass viele Analysen von der Sell-Side kommen. Sie stecken also nicht in den Schuhen der Anleger oder Unternehmen, sondern müssen dafür sorgen, dass ihr Arbeitgeber möglichst viel Umsatz macht. Wer sich auf Analystenprognosen verlässt, muss daher im Vorfeld genau überprüfen, ob die Analysen von der Buy-Side oder der Sell-Side kommen.
Dennoch sind die Analystenprognosen ein wichtiges Werkzeug an der Börse. Durch ihre Nähe zum Management haben sie in der Regel einen ausgezeichneten Einblick in die laufende Geschäftsentwicklung, was zu wichtigen Erkenntnissen führen kann. Noch wichtiger sind die Analystenprognosen als Aggregat betrachtet. Zieht man die Prognosen für eine wichtige Benchmark zusammen und betrachtet die Entwicklung dieses Aggregat für eine Periode über den Verlauf der Zeit, können daraus wichtige Rückschlüsse gezogen werden. Insbesondere darüber, wie weit die Anleger sich vom wahrscheinlichen Ausgang der Berichtssaison entfernt haben und wie die Periode im historischen Vergleich einzuordnen ist. Das beste Beispiel liefert ohne Zweifel der S&P 500 Index.
Kaum eine andere Benchmark wird so genau analysiert wie der S&P 500 Index. Mit seinen 500 Mitgliedern und 11 Sektoren liefert der Index ein sehr gutes Spiegelbild der amerikanischen Wirtschaft, was von Tausenden von Analysten Tag für Tag bis ins Detail unter die Lupe genommen wird. Um die Analystenprognosen richtig einschätzen zu können, muss man jedoch die ungeschriebenen Gesetze kennen.
Die drei ungeschriebenen Gesetze der Analystenprognosen
Das 1. ungeschriebene Gesetz ist, dass die Analystenprognosen für eine Periode immer niedriger werden, je näher das Periodenende kommt. Für das 3. Quartal 2024 war das besonders deutlich. Im Schnitt startete die Erwartung am Quartalsbeginn mit der durchschnittlichen Prognose eines Gewinnwachstums von 7 % im Jahresvergleich für den S&P 500 Index. Dieser Durchschnitt fiel dann insbesondere im September sehr stark, sodass die Konsens-Gewinnprognose im Vorfeld der Berichtssaison auf 4,2 bis 4,4 % gesunken war, je nachdem welche Analysten man in die Berechnung mit einbezieht.
Das 2. ungeschriebene Gesetz ist, dass die Konsens-Gewinnprognose in der Regel immer geschlagen wird. Oder um es konkret auszudrücken: In den vergangenen 40 Quartalen bzw. 10 Jahren wurde die Konsens-Gewinnprognose der Analysten für den S&P 500 Index in 37 Quartalen geschlagen. Die einzigen drei Ausnahmen waren Quartale, in denen sich eine plötzliche und unerwartete Eintrübung des Geschäfts ergab. Das prominenteste Beispiel dafür ist das 1. Quartal 2020.
Das 3. ungeschriebene Gesetz ist, dass der Löwenanteil der Unternehmen die Konsens-Gewinnschätzungen schlägt. Historisch betrachtet schlagen rund 75 % der Unternehmen die Analystenprognosen, was für sich genommen ebenfalls eine Überraschung ist, denn die Zahl ist über die vergangenen Jahrzehnte sehr stabil. Man könnte es auch anders ausdrücken: Ein Unternehmen, das die Konsens-Gewinnprognose der Analysten schlägt, ist per se keine (positive) Überraschung, sondern die Normalität.
Welche Chancen und Risiken birgt die aktuelle Berichtssaison?
Kommen wir zur aktuellen Berichtssaison, um einen echten Nutzen in der Praxis zu bekommen. Wir wissen, dass die Unternehmen im S&P 500 im Schnitt von einem Gewinnwachstum von 16 % im 3. Quartal im Jahresvergleich ausgehen. Das ist historisch betrachtet eine echte Ansage, da sehr hoch gegriffen.
Die Analysten sind dagegen sehr viel zurückhaltender. Sie gehen wie beschrieben von 4,2 bis 4,4 % Gewinnwachstum aus. Da wir jedoch wissen, dass die Konsens-Schätzung in der Regel zu niedrig ist, bleibt nur die Frage, um wie viel die Konsens- Schätzung geschlagen wird. Hier können wir uns an der Vergangenheit orientieren und dann einen „educated guess“ machen. Schaut man sich die vergangenen 10 Jahre an, dann wurden die Konsens-Gewinnschätzungen um 5,5 Prozentpunkte übertroffen. In den vergangenen 5 Jahren, die stark von der Pandemie geprägt waren, wurden die Konsens-Gewinnschätzungen um 7,2 Prozentpunkte übertroffen. Und in den vergangenen vier Quartalen um 3,1 Prozentpunkte. Die Pandemie können wir getrost als Anomalie herausnehmen. Da wir von den ersten Berichten der Wall Street Banken bereits wissen, dass die Wirtschaft in den USA sehr gut läuft, macht es Sinn, auf den 10-jährigen Durchschnitt zurückzugreifen.
Fügt man der offiziellen Konsens-Gewinnschätzung der Analysten die wahrscheinliche positive „Überraschung“ hinzu, dann landen wir also bei einem geschätzten, realistischen Gewinnwachstum für den S&P 500 Index von 9,7 % bis 9,9 % im Jahresvergleich. Das wäre ein sehr gutes Ergebnis. Aber es passt weder zu den Erwartungen der Unternehmen noch zu den Erwartungen, die die Anleger eingepreist haben.
Realistisch ist ein Gewinnwachstum von knapp unter 10 %, die Unternehmen haben sich auf 16 % festgelegt und die Anleger liegen deutlich über der durchschnittlichen Prognose der Unternehmen, was wir an den zahlreichen neuen Allzeithochs im Dow Jones Industrial Average Index und im S&P 500 Index sowie den Bewertungen der Aktien ablesen können.
Nach der Rallye ist vor der Rallye
Die Bullen haben die Aktienmärkte in den USA (und auch in Europa) zum Beginn der Berichtssaison für ein Best-Case-Szenario positioniert. Die eingepreisten Erwartungen liegen weit über dem, was realistisch ist. Die Gruppe der Unternehmen, deren Kurse nach Vorlage der Berichte stark steigen werden, ist also im relativen Verhältnis klein. Die Gruppe der Aktien, die mit scharfen Kurseinbrüchen reagieren, wenn die Zahlen und Prognosen für das 4. Quartal und das Jahr 2025 nicht den hohen Ansprüchen genügen, wird auffällig groß sein, wie erste Beispiele bei ASML und LVMH bereits zeigen.
In einem Satz zusammengefasst bietet die aktuelle Berichtssaison wenige neue Chancen und viele neue Risiken für die Kurse, denn den attraktiven Teil der Herbst-Rallye haben wir bereits im September und Anfang Oktober gesehen. Doch kein Grund, sich zu grämen, denn nach der Rallye ist bekanntlich vor der Rallye und Weihnachten liegt noch vor uns.
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