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SPITZENSTEUERSATZ

Warum du in Deutschland als Spitzenverdiener nicht reich bist

von Isabella Müller-Reinhardt

Ich habe heute mal zwei Fragen an euch. Was glaubt ihr, wie hoch ist der Spitzensteuersatz derzeit in Deutschland? Und ab welchem Jahresbruttoeinkommen greift er?

Die gleichen Fragen habe ich vier Freundinnen gestellt. Alle berufstätig, aber weder im Finanz- noch Steuerwesen tätig.

Die Antworten

Freundin 1: 46% ab einem Einkommen von 100.000 Euro

Freundin 2: 48% ab einem Einkommen von 180.000 Euro

Freundin 3: 65% ab einem Einkommen von 100.000 Euro

Freundin 4: 25% ab einem Einkommen von 150.000 Euro

Wer die richtigen Antworten kennt, weiß, meine Mädels liegen alle ziemlich daneben. Ganz besonders, was das Jahreseinkommen angeht. Denn, bereits ab einem Bruttogehalt von 58.597 Euro im Jahr zahlt ein Arbeitnehmer 2022 in Deutschland den Spitzensteuersatz. Der wiederum liegt bei 42 Prozent.

Wenn ich Spitzensteuersatz höre, denke ich natürlich an Spitze. Spitzenverdiener, Spitzengehälter, an die finanzielle Spitze der Gesellschaft, die bei einer Pyramide, oder einem Eisberg ganz oben an der Spitze steht. 

Falsch gedacht. Denn mit einem Jahresgehalt von 58.597 Euro bist du in Deutschland ganz sicher nicht reich. Es bleibt ja auch nicht bei der Einkommenssteuer. Hinzu kommen noch die Sozialabgaben. 

Verdiene ich genau die 58.597 Euro im Jahr, bin kinderlos, unverheiratet und in der Kirche, sagt mir der Gehaltsrechner im Internet, dass ich am Ende einen Nettolohn in Höhe von 35118,40 Euro Im Jahr zum Leben habe. Das sind im Monat etwa 2.926 Euro. Viel Kohle, aber bin ich damit „reich“? Eher nein, aber ich würde mit dem Gehalt schon zu den Spitzenverdienern Deutschlands gehören.

Allerding zahle ich bei der Rechnung gar nicht den Spitzensteuersatz von 42 Prozent. Denn auch für Spitzenverdiener gilt ein jährlicher Freibetrag von mittlerweile 10.347 Euro (2022).

Und zusätzlich können wir beim Finanzamt auch Ausgaben angeben, die sich steuermindernd auswirken. Werbungskosten, Freibeträge und Sonderausgaben. Die werden natürlich mit den Einnahmen verrechnet. Wir haben auch die Wahl, aus der Kirche auszutreten, um Steuern zu sparen. Dann bleibt am Ende zwar mehr netto, ändert aber nichts am Spitzensteuersatz.

Mit den 42 % Spitzensteuersatz liegt Deutschland im europäischen Vergleich übrigens eher im unteren Bereich. In Schweden beispielsweise liegt er bei über 55%.Daher muss die Politik auch nicht den Spitzensatz in Deutschland senken, sondern eher das Grenzgehalt anheben. 

Es gibt ja in unserem Land neben dem Spitzensteuersatz auch noch einen Höchststeuersatz, auch Reichensteuer genannt. Diese beträgt 45% ab einem Jahresgehalt von 277.826 Euro. Und ganz ehrlich, bei der Summe darf man dann auch getrost von Spitzengehalt oder Spitzenverdiener sprechen.

Das ist das Prinzip der Solidarität. Wer mehr verdient, muss auch mehr zahlen. Aber, dass in Deutschland mittlerweile 4 Millionen Menschen den Spitzensteuersatz zahlen ist ein Witz. Denn bei einem Jahresgehalt von beispielsweise 60.000 Euro können wir nicht von der finanziellen Spitze oder Oberschicht sprechen, sondern von der Mittelschicht. Daher sollte sich die Politik mal an dem orientieren, was für meine Freundinnen ein Spitzengehalt ist und den Grenzbetrag anheben. Am besten auf sechsstellig.

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Isabella Müller-Reinhardt
Isabella Müller-Reinhardt

Die in Madrid aufgewachsene Münchnerin arbeitet seit mittlerweile mehr als zwanzig Jahren als Sportmoderatorin für verschiedene deutsche und englische Fernsehsender. Zu den Stationen Müller-Reinhardts zählen unter anderem ARD, ITV, Sport1, Sky und Arena. Zudem plaudert sie in einem Podcast über „Weiberkram“, schreibt diverse Sportkolumnen und hat mit "Mensch Trainer" im Sommer 2020 ihr erstes Buch veröffentlicht.