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Tückischer Teufelskreis

Warum Arme oft arm bleiben

von Nils Matthiesen

Arme sind faul, so ein gängiges Vorurteil. Dabei ist Mittellosigkeit in der Regel nicht auf charakterliche Schwächen oder mangelndes Talent zurückzuführen. Es gibt vor allem zwei andere Probleme.

Das Armutsrisiko hat in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht. Laut aktuellem Paritätischen Armutsbericht hat die Armutsquote in Deutschland mit 15,9 Prozent (rechnerisch 13,2 Millionen Menschen) einen neuen traurigen Rekord und den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung erreicht. Dazu muss man wissen: Wer als Einpersonenhaushalt weniger als 1.074 Euro pro Monat zur Verfügung hat – also 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens – gilt als armutsgefährdet. Die Sachlage wird durch die Coronakrise sicher nicht besser, ganz im Gegenteil. „Deutschland ist ein in wachsender Ungleichheit tief zerrissenes Land. Immer mehr Menschen leben ausgegrenzt und in Armut, weil es ihnen an Einkommen fehlt, um den Lebensunterhalt zu bestreiten und an unserer Gesellschaft gleichberechtigt und in Würde teilzuhaben.“, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. Das größte Problem aus seiner Sicht: Volkswirtschaftliche Erfolge kämen seit Jahren nicht bei den Armen an. Ein weiteres Problem: In den aktuellen Krisen-Rettungspaketen würden die Armen weitestgehend ignoriert.

Kein Mangel an Talent

Warum bleiben arme Menschen aber oft arm? Typische Antworten:

„Arme sind faul.“
„Arme können nicht mit Geld umgehen.“
„Arme haben nicht die richtige Einstellung.“

Solche Behauptungen sind gelinde gesagt gewagt und entbehren empirischer Daten. Generell ist die Studienlage zu dem Thema allerdings dünn. Vor kurzem sorgte daher eine Erhebung der London School of Economics mit dem Titel „Why Do People Stay Poor“ (Warum bleiben Menschen arm?) für Aufsehen. Die zentrale These: Nicht mangelnde Motivation oder Talent halten Menschen arm, sondern der Mangel an Kapital. Für diese Erkenntnis statteten die Forscher weibliche Dorfbewohner in Bangladesch nach dem Zufallsprinzip mit Vermögen aus, beispielsweise Vieh. Dann warteten sie ab, wie sich diese Gabe auf die Finanzen auswirken würde. Zitat: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass große einmalige Spenden, die Menschen in die Lage versetzen, produktivere Berufe zu ergreifen, dazu beitragen können, anhaltende Armut zu lindern.“ Und weiter: Viele arme Menschen bleiben arm, weil sie in schlecht bezahlten Berufen arbeiten, die sie ausüben müssen, um zu überleben.

Die Armutsfalle

Die Forscher beschreiben diesen Umstand als Armutsfalle. Geldmangel hindere Arme daran, sich fortzubilden, um an höher dotierte Jobs zu kommen. Andersherum: Man brauche Geld, um Geld zu machen. Ohne finanzielle Mittel sei es für Menschen unglaublich schwierig, an die Fähigkeiten zu gelangen, um durchzustarten. Man könnte es auch als Teufelskreis beschreiben. Dazu kommt eine psychologische Komponente. Arme Menschen seien öfter gestresst, da sie sich ständig mit drängenden Problemen auseinandersetzen müssen. Stresshormone würden wiederum die geistige Kapazität beinträchtigen. In einer Reihe von Experimenten fanden Forscher heraus, dass drängende finanzielle Sorgen eine unmittelbare Auswirkung auf die Fähigkeit von Personen mit niedrigem Einkommen hätten, kognitive und logische Aufgaben zu lösen. Im Durchschnitt zeigten Personen mit Geldproblemen einen deutlichen Rückgang der kognitiven Funktionen, die einer Minderung des IQ um 13 Punkte oder dem Verlust einer ganzen Nacht Schlaf entsprechen. In Anbetracht dieser Ergebnisse ließe sich argumentieren, dass die sogenannten Charakterschwächen der Armen eher eine Folge der Armut als ihre Ursache sind. Die ständige Knappheit führe zu Ängsten, verenge die Perspektive und verringere die verfügbare geistige Kapazität. 

Fazit

Bevor wir Arme dafür verurteilen, dass sie arm sind, sollten wir uns vor Augen halten, dass es viel Kraft und Glück erfordert, aus so einer misslichen Situation wieder herauszukommen. Ebenso handelt es sich höchstwahrscheinlich nicht um charakterlichen Schwächen, die zu diesem Umstand geführt haben.

ein Artikel von
Nils Matthiesen
Nils ist Journalist, Texter und einer der ersten Digital Natives. Er beschäftigt sich schon seit über 20 Jahren mit den Themen Vorsorge, Geldanlage und Börse. Persönlich setzt er inzwischen mehr auf Fonds-Sparpläne als aktives Aktien-Picking.