Einen wesentlichen Beitrag dafür, dass das Thema noch größer auf unser aller Agenda geschrieben wurde, hat mit Sicherheit die wohl größte Krise der Nachkriegszeit, die Coronapandemie geleistet.
Denn einerseits wurden auf Grund der durch die soziale Abschottung entstehende Einsamkeit vieler Menschen die Zahl der Erkrankten in die Höhe getrieben. Andererseits wurde unser kritischer Blick auf therapeutische Unterstützung durch vermehrte mediale Berichterstattungen und einen diesbezüglichen Diskurs entschärft. Man kann behaupten: Es hat in den vergangenen zwei Jahren eine gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung stattgefunden.
Zudem ist in den letzten Jahren gerade innerhalb der jüngeren Generationen die Gruppe der potenziellen Kunden rasant gewachsen. Laut der “Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde“ liegt die Prävalenz einer psychischen Erkrankung in der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland aktuell bei knapp 28 Prozent. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen wurde über die letzten Jahre eine stetige Zunahme der psychischen Diagnosen verzeichnete. Wie die Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung in ihrem Report 2020 verrät, stieg in der Altersgruppe bis 18 Jahre die Rate der Betroffenen von 23 Prozent im Jahr 2009 auf 28 Prozent im Jahr 2017. Doch woher rühren diese hohen Zahlen?
Fakt ist: die Genration Z steht vor Herausforderungen, die es in dieser Form früher nicht gab. Dazu gehört unter anderem die ständige Adaption an den rasant verlaufenden technologischen Fortschritt und eine sich immer weiter globalisierenden Welt, die uns vor Probleme wie Pandemien, Zerstörung der lokalen Wirtschaft oder Umweltkatastrophen stellt. So besagen Zahlen aus den USA, dass die Suizidrate der 10- bis 24-Jährigen dort zwischen 2007 und 2017 um 56 Prozent anstieg. In Deutschland ist Suizid bei den unter 25-Jährigen sogar die zweithäufigste Todesursache.Gleichwohl sind diese jungen Menschen offener für Hilfeleistungen. So waren beziehugsweise sind 37 Prozent der Mitglieder der Gen Z in psychotherapeutischer Behandlung, wie eine Umfrage des APA Stress in Amerika aus dem Jahr 2018 ergab.
Erfreulicherweise scheint die hohe Nachfrage für mehr Innovation und eine Diversifizierung der bestehenden Angebote auf dem Markt zu sorgen. So erklärt Christian Weiß, der Managing Partner von „Heal Capital“, einem 100 Millionen schweren Venture Capital Fond des Verbands Privater Krankenversicherer (PKV), kürzlich gegenüber der Deutschen Welle, es vergehe keine Woche, in der sie kein spannendes neues Unternehmen im Bereich Digital Mental Health in Europa entdecken. Ihre Investmentfirma hat sich vornehmlich auf die Förderung von Start-ups an der Schnittstelle zwischen Gesundheitswesen und Technologie spezialisiert.
Doch was ist ausschlaggebend für das enorme Wachstum der digitalen Formate auf dem Markt? Klar ist: Das digitale Angebot trifft den Puls der Zeit.Der Videocall hat sich längst in unseren Alltag gebettet wie der Kaffee am Morgen. Warum also nicht auch „private“ Angelegenheiten wie Therapiestunden per Videoanruf erledigen? Vor Corona war nur rund ein Drittel der deutschen Fachärzte offen für eine solche Behandlung. In anderen Ländern wie Skandinavien, den Niederlanden oder Australien gehörte dieses Angebot hingegen schon längst zum „Daily Business“. In Folge der Coronapandemie hat sich jedoch auch hierzulande der Anteil der Befürworter auf zwei Drittel erhöht.
Nun beginnen sogar Krankenkassen mit einer Erweiterung des Angebots in jenem Bereich. So bietet beispielsweise die Techniker Krankenkasse seit Kurzem für ihre Versicherten diverse Onlineangebote an, mit denen sie ihre Ängste von zu Hause mittels einer App, durch Videotelefonate oder über auf eine Virtual-Reality-Brille projizierte Übungsszenen bekämpfen können.
Fakt ist, dass das digitale Angebot gerade für die Menschen, die einen offenen Umgang mit dieser Thematik scheuen, sowie die direkten Konfrontationen mit anderen vermeiden möchten, dienlich sein kann. Denn dass in einigen Teilen der Gesellschaft der Zenit der Parkettfähigkeit zu diesem Thema noch nicht erreicht worden ist, wird durch eine Umfrage des Bundesarbeitsministeriums untermauert. Laut dieser würde nur etwa die Hälfte der Menschen ihren Freunden von einer psychischen Diagnose erzählen. Auf der Arbeit würden nur maximal 20 Prozent darüber sprechen.
Was jedoch nicht nur den Mental Health Unternehmen Hoffnung macht, ist, dass es auf den sozialen Medien diesbezüglich eine große Bewegung und auch die entsprechende Community gibt, welche die Nutzer sensibilisieren und zum Austausch anregen möchten. So hat kürzlich eine der bekanntesten deutschen Influenecerinnen Sophia Thiel im Zuge ihres Wechsels von der Fitnessinfluencerin zur Menatl Health Unternehmerin bei ihren 1.3 Millionen Instagram- und ihre 1 Millionen Youtubeabonnenten für mehr Aufklärung gesorgt. Dieses Potenzial auf den sozialen Medien erkannte beispielsweise auch die Caritas, und initiierte auf TikTok eine Suizidpräventions-Kampagne mit dem Titel „Du bist mir wichtig“ womit sie mal eben ein Millionenpublikum erreichte.
Die „digitale Awareness“ begründetet sich vermutlich in zweierlei Faktoren: Zum einen entspringen die Nutzergruppen dieser Medien vornehmlich den jüngeren Generationen, die sowieso eine gewisse Offenheit im Umgang mit mentalen Problemen kultivieren. Zum anderen leiden immer mehr Jugendliche an sozialen Ängsten, wie zum Beispiel einer Telefonphobie, was ein direktes Gespräch mit Therapeuten eher schwierig gestaltet und Onlineformaten auch als Informationsquellen mehr Attraktivität verleiht.
Indessen passen sich die digitalen Mental Health Unternehmen durch den niedrigschwelligen Zugang optimal unserer neuen „Silbertablettsmentalität“ an. Jegliche Erledigungen können wir heutzutage von der Wohnzimmercouch bedienen: Einkaufen lassen wir den Radkurier, kochen tut der Lieferdienst, die Partnersuche läuft über die App, die Besprechung mit unseren Arbeitskollegen übers Laptop… Also warum nicht auch das wertvollste aller Güter von zu Hause pflegen: unsere Gesundheit?
Außerdem stellt das Angebot für zu Hause schlichtweg eine kosten- und zeitgünstigere Alternative dar. Gerade wenn man bedenkt, dass Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status zu 37,9 Prozent häufiger an psychische Erkrankungen leiden, als Personen mit mittlerem und hohem Status, ist dies ein wichtiger Schritt zu mehr sozialer Gerechtigkeit im Gesundheitswesen.
Doch wie ist die Situation auf dem Markt tatsächlich? In den USA boomt die Branche schon seit geraumer Zeit. Allein im Jahr 2020 verwendeten Investoren 1,5 Milliarden Dollar auf diesen Wirtschaftszweig. Das am schnellsten wachsende „Einhorn“ der Digitalen Mental Health-Szene ist das US-amerikanische Start-up „Cerebral“. Es bietet neben Online-Therapien, psychiatrische Behandlung, sowie den Zugang zu Medikamenten an. Seit der Gründung hat es innerhalb von anderthalb Jahren einen Marktwert von über einer Milliarde US-Dollar erzielt.
Auch in Deutschland wurde das Gründen in diesem Feld deutlich attraktiver. So wurde durch das im November 2019 von der Bundesregierung verabschiedetet „Digitale-Versorgungs-Gesetz“ eine günstige Grundlage für den Ausbau der Branche geschaffen. Das Gesetz soll die Digitalisierung im Gesundheitswesen weiter vorantreiben, indem es Ärzten erlaubt, Medizin-Apps zu verschreiben. Zu einen dieser Apps gehört unter anderem auch das 2016 gegründete Online-Therapieportal „Selfapy“. Hier melden sich laut der Gründerin Nora Blum in den letzten Jahren immer mehr Unternehmen an, die für eine gute mentale Gesundheit ihrer Mitarbeiter Sorge tragen möchten.
Doch warum ist gerade die Awareness in Unternehmen dafür so groß? Es kann jedenfalls nicht nur an unendlich vielen empathischen Geschäftsführern liegen. Fakt ist Arbeitsunfähigkeit führt zu hohen volkswirtschaftlichen Produktionsausfällen. Im Jahr 2017 allein verursachten psychische Erkrankungen Kosten in Höhe von 12,2 Milliarden Euro und gehörten damit zur zweithöchsten Kostengruppe. Folglich ist der Boom des Mental-Health-Marktes auch sämtlichen anderen Wirtschaftszweigen zuträglich und stellte keine disruptive Innovation dar, vor der sich Unternehmer fürchten sollten. Im Gegenteil es bedarf einer frühzeitigen Assimilation an die Bedürfnisse der zukünftigen Arbeitnehmer und einer Integration in die Unternehmenskultur.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die mentale Gesundheit stößt auf eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz als noch vor 20 Jahren und genau so gestaltet sich auch die Entwicklung des Marktes: Rückblickend ist viel passiert, aber schaut man in die Zukunft, so besteht nach wie vor enormes Wachstumspotenzial.