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WORK-LIFE

Mehr Leben, weniger Arbeit: Warum die 4-Tage-Woche einen Versuch wert ist

von Isabella Müller-Reinhardt

Auf eine bezahlbare Mietwohnung in Deutschland kommen locker mehrere Dutzend Bewerber. Ähnlich sah es mal auf dem Arbeitsmarkt aus. Heutzutage sind Unternehmen dagegen froh, wenn sich überhaupt ein qualifizierter Bewerber meldet und für den Job interessiert.

Pflegenotstand, Fachkräftemangel, zu wenig Lehrer, Erzieher, Handwerker. Die Gastronomiebranche pfeift aus dem letzten Loch.

Letztens erzählte mir ein Mode-Boutiquen-Besitzer aus Großburgwedel, dass er von seinen drei Geschäften, eines schließen musste. Nicht wegen Insolvenz, sondern weil er schlicht niemanden gefunden hat, der dort arbeiten will. Auch meine Lieblings-Kassiererin aus meinem Lieblings-Supermarkt klagte kürzlich, sie bräuchten dringend Leute. Für die Kasse, für die Reinigung, es fehle an allen Ecken.

Gibt es eigentlich noch irgendeine Branche, die nicht händeringend nach Mitarbeitern sucht?

Früher konnten sich die Chefs im Bewerbungsgespräch easy zurücklehnen und den Bewerber fragen: „Sas können Sie für unser Unternehmen leisten?“ Heute lehnt sich der Bewerber entspannt zurück und fragt: „Was kann das Unternehmen mir bieten?“

Ein Korb mit frischem Obst, eine vergünstigte Mitgliedschaft im Fitness-Studio oder Mineralwasser und Kaffee for free reichen da mittlerweile nicht mehr aus. Vielleicht kommen auch deswegen immer mehr Unternehmen in Deutschland auf die Idee einer 4-Tage-Woche. Klingt reizvoll und sticht die anderen Firmen, die noch an alten Mustern festhalten aus.

Inn Großbritannien läuft derzeit ein Feldversuch zu diesem neuen 4-Tage-Modell. 70 Unternehmen mit über 3300 Beschäftigten beteiligen sich daran. Drei Monate nach Start des Projekts, gaben 46 Prozent (!) der Unternehmen an, dass sich an der Produktivität nichts geändert habe. 34 Prozent konnten jedoch eine leichte Steigerung feststellen und 15 Prozent der Unternehmen sprachen sogar von einer deutlichen Produktivitätssteigerung.

Für immer mehr, gerade junge Menschen, steht nicht mehr nur die Karriere im Vordergrund, sondern das „Ich“. Mehr Freizeit, weniger buckeln. Viele Arbeitnehmer haben sich daher schon jetzt freiwillig für das Teilzeit-Modell entschieden auch wenn sie dadurch Lohneinbußen hinnehmen müssen. Im Durchschnitt arbeiten die Menschen in Deutschland 30 Stunden die Woche. 

Zurück nach Großbritannien. Eines der 70 Versuchskaninchen hat angegeben, fünfmal so viele Bewerbungen erhalten zu haben, wie vor der Umstellung auf die 4-Tage-Woche. Und vielleicht ist das auch ein gutes Argument für unser Land, die Attraktivität des eigenen Unternehmens zu steigern. Biete ich den Menschen mehr Freizeit, und somit mehr Me-Time“ bei gleichem Gehalt, habe ich einen riesigen Vorteil gegenüber Mitbewerbern. Ihr kennt den dämlichen Macho-Spruch „happy wife, happy life“?

In der Arbeitswelt trifft das allerdings wirklich zu. Zufriedene Mitarbeiter, sind produktiver. Leisten mehr. Auch wenn sie einen Tag weniger arbeiten? Ein Versuch wäre es wert.

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Isabella Müller-Reinhardt
Isabella Müller-Reinhardt

Die in Madrid aufgewachsene Münchnerin arbeitet seit mittlerweile mehr als zwanzig Jahren als Sportmoderatorin für verschiedene deutsche und englische Fernsehsender. Zu den Stationen Müller-Reinhardts zählen unter anderem ARD, ITV, Sport1, Sky und Arena. Zudem plaudert sie in einem Podcast über „Weiberkram“, schreibt diverse Sportkolumnen und hat mit "Mensch Trainer" im Sommer 2020 ihr erstes Buch veröffentlicht.