Maß
„Sich zu keiner Seite hinneigen, heißt Mitte, kein Schwanken zulassen, heißt Maß.“, so der chinesische Philosoph Zhu Xi (1130 – 1200). So ist also der vielgepriesene Grundsatz unserer westlichen Demokratie von „Maß und Mitte“ ein Bonmot des Systemrivalen China. Das ist das Schöne an Weisheiten, sie sind universal und gehören keinem System, keinem Staat und auch keinem Staatsmann oder Staatsfrau. Politik sollte sich daran orientieren, an den gemeinsamen Weisheiten und weniger an den trennenden Werten. Dafür braucht es aber Maß und weniger Maßlosigkeit. Unsere Werte sind nicht zwangsläufig das Maß für andere, es ist maßlos dies von anderen zu fordern. Auch als Anleger ist der Blick auf die Finanzmärkte oft nicht mit dem richtigen Maß an Kenntnis geprägt. So flammte die Angst der US-Bankenkrise diese Woche mit der First Republic Bank wieder auf. Inzwischen steht die Aktie dieser US-Regionalbank 98% unter ihrem Allzeithoch und die Bankkunden ziehen ihr Geld im großen Stil ab. Die Bank wird wohl nicht ohne Hilfe überleben. Und jetzt zu Maß und Mitte: Bankenkrise? Nein, wir sehen hier längst fällige Anpassungen, die zudem überhaupt nicht ungewöhnlich sind. Die USA haben in den letzten 40 Jahren 70% ihrer Geschäftsbanken verloren. Waren es Anfang der 80er noch über 15.000, so existieren aktuell noch ca. 4.000 davon in den USA. Ist die US-Wirtschaft dadurch weniger gewachsen oder hat sich schlecht entwickelt? Nein, das nennt man Marktwirtschaft, schöpferische Zerstörung oder ganz einfach ein funktionierendes Wirtschaftssystem. Die Maßstäbe wurden diese Woche woanders gesetzt:
Maßstäbe
Meta, Microsoft und Google, die Blue Chips der digitalen Revolution, haben diese Woche mit ihren Quartalsergebnissen gezeigt, dass die Produktivität der Zukunft durch Cloud Business und Künstliche Intelligenz vor einem weiteren Schub stehen wird. Das Wachstum der Cloud als Grundvoraussetzung für die Datenverarbeitung und die Anwendungsbereiche der Künstlichen Intelligenz auf diese Daten eröffnen nicht nur einen weiteren Raum der Gestaltung, sondern auch dutzende neue Türen, die es in diesem Raum gibt. Die Zukunft vieler Berufe und Dienstleistungen wird sich gewaltig verändern. Ganze Branchen werden einen Produktivitätsschub spüren, andere dagegen an Bedeutung verlieren. Ein ganz neuer Zyklus der Innovation könnte sich dadurch entfalten und neue Maßstäbe auch für viele Problemlösungen setzen. Wir sollten gerade als Europäer diese Maßstäbe aktiv mitgestalten, um nicht das Museum der Welt zu werden. Eine gemeinsame digitale Offensive der Europäischen Union ist längst überfällig und könnte auch dem gemeinsamen Wertekanon wieder mehr Schwung verleihen. Einst aus der gemeinsamen Kohle- und Stahl-Gemeinschaft entstanden, ist die EU zur Wirtschaftsgemeinschaft avanciert und sollte sich eine zukünftige Digitalgemeinschaft auf die Fahne schreiben.
Maßnahmenpaket
Dazu bräuchte es mit Sicherheit wieder mehr glühende Europäer und ein langfristiges Maßnahmenpaket. Letzteres können die Amerikaner einfach immer besser, wie man aktuell am Inflation Reduction Act sieht. Der Taktgeber an den Börsen ist und bleibt weiter die USA. Vor allem die US-Notenbank FED ist die wichtigste Instanz. Egal ob beim Bankenbeben, der Inflationsbekämpfung oder der kommenden Immobilienkrise. Vergessen Sie aber Zinssenkungen, die werden aus meiner Sicht nicht so schnell kommen, wie der Markt derzeit vermutet. Solange keine Katastrophe eintritt, wird die FED am Inflationsziel festhalten und keinesfalls Zinsen senken. Sie sind anderer Meinung? Gut so, denn davon leben die Wertpapiermärkte. Sich zu keiner Seite hinneigen und keine Schwankungen zulassen ist nichts für die Börse.
Ihr Volker Schilling