KONSUMRAUSCH

„Wir müssen bewusster und besser konsumieren“ – Trendanalyst und Autor Carl Tillessen im Interview

von Michael André Ankermüller

Der Autor Carl Tillessen hat ein Buch über „Konsum“ geschrieben und erklärt, warum wir oft mehr kaufen als uns eigentlich guttut. Und stand uns für ein Interview zur Verfügung.

„Warum wir kaufen, was wir nicht brauchen“ – Ja, warum eigentlich?


Das hat viele Gründe. Sonst wäre ja kein Buch draus geworden. Der Hauptgrund dafür, dass wir jetzt so viel mehr kaufen als früher, ist aber ganz einfach, dass wir es uns leisten können. Wir können es uns leisten, weil in den letzten zwanzig Jahren die Produktion fast sämtlicher Konsumgüter in Billiglohnländer verlegt wurde. Zum Beispiel wurde 1999 noch die Hälfte der Kleidung, die in den Vereinigten Staaten getragen wurde, auch in den Vereinigten Staaten hergestellt. 2015 waren es nur noch verschwindende 2 Prozent. Wenn – um bei dem Beispiel Kleidung zu bleiben – eine deutsche Modefirma 2015 die Fertigung ihrer Kleidung nach Bangladesch verlegte, hatte sie von einem Tag auf den anderen nur noch drei Prozent ihrer vorherigen Lohnkosten. Diese enormen Kostenvorteile haben die Unternehmen an den Konsumenten weitergegeben. Dadurch sind für uns fast alle Dinge des täglichen Gebrauchs unfassbar billig geworden. Und je billiger die Dinge werden, desto mehr kaufen wir. Das ist das Gesetz der Nachfrage: Wenn der Preis fällt, steigt die Nachfrage. Und wenn der Preis extrem fällt, steigt auch unsere Nachfrage extrem. Sie steigt immer weiter, auch wenn sich an unserem Bedarf eigentlich gar nichts geändert hat.

Was würde mit der Wirtschaft passieren, wenn wir nur noch das kaufen, was wir wirklich brauchen?


Wenn man sich diese Frage stellt, merkt man sehr schnell, dass „brauchen“ ein sehr dehnbarer Begriff ist. Brauchen wir Musik? Nicht wirklich. Aber die Welt wäre sehr viel trauriger ohne sie. Das Gleiche gilt für viele unserer Lustkäufe. Wir wollen und können sie uns nicht verkneifen. Entsprechend rufe ich in meinem Buch auch nicht dazu auf, gar nicht mehr zu shoppen, sondern bewusster und besser zu shoppen. In der Konsequenz bedeutet das unausweichlich, dass man weniger aber wertiger kauft und dass unsere Wirtschaft weniger Waren, aber nicht unbedingt weniger Geld umsetzt.

Aus welchem Grund hast Du das Buch überhaupt geschrieben? War und ist Dein persönlicher Konsum ausschlaggebend für das Buch?

Ja, auch. Aber ich arbeite ja auch in der Konsumindustrie und bin dadurch nicht nur privat, sondern auch beruflich Teil des Systems. Ich bin also Konsumtäter und Konsumopfer gleichzeitig. Aus beiden Perspektiven habe ich beobachtet und erlebt, wie dramatisch sich die Art, wie wir shoppen, durch die Globalisierung und Digitalisierung in den letzten zwanzig Jahren verändert hat. Wir kaufen jetzt mit Devices, die wir früher nicht hatten, auf Kanälen, die wir uns früher nicht vorstellen konnten, bei Händlern, die es früher nicht gab. Und wir kaufen aus Gründen und Bedürfnissen, die wir vorher nicht hatten, Dinge, die wir vorher nicht brauchten. Vor allem aber kaufen wir in einer Menge und in einer Frequenz wie nie zuvor. Das hat unser aller Leben verändert, und insofern lohnt es sich für jeden von uns, sich diese Veränderungen und ihre Konsequenzen einmal kurz bewusst zu machen, finde ich. Deshalb habe ich das Buch geschrieben.

Wie könnte Konsum in der Zukunft aussehen? Auch in Hinblick auf die zahlreichen Erfahrungen, die wir in der Coronakrise gesammelt haben, beispielsweise dem enormen Boom von Online-Shopping. Aber auch die Erkenntnis, dass wir alle eigentlich gar nicht soviel brauchen.

Ja, wir haben in der Coronakrise tatsächlich kollektiv ein paar prägende Erfahrungen gemacht. Das klischeehafte Ausmisten und Entrümpeln während des Lockdowns ist eine solche Erfahrung. Wir haben mehr Zeit zuhause verbracht und festgestellt, was wir alles schon haben. Außerdem haben wir festgestellt, wie viel von den Dingen, von denen wir immer geglaubt hatten, dass wir sie für uns kaufen, wir eigentlich für andere kaufen. Das Interesse an der Louis-Vuitton-Handtasche erlischt schlagartig, wenn wir sie niemandem mehr zeigen können. Insofern könnte uns der Lockdown in Bezug auf unseren Konsum eigentlich einiges lehren. Tatsächlich schaffen es aber nur der eine Teil unserer Gesellschaft, die schmerzlichen Einschnitte, die wir gerade erleben, als tolle Chance für einen Neuanfang mit weniger Konsum zu umarmen. Die andere Teil hingegen hat gar keine Lust, sich die Krise als Chance schönzureden. Diese Menschen sind einfach nur genervt und wollen ihr altes Leben zurück. Und wenn die stationären Läden zu sind, dann kaufen sie eben online. Sie kaufen mehr denn je, um sich über die krisenbedingten Entbehrungen hinwegzutrösten. Insofern könnte man sagen, dass die Erfahrungen der Coronakrise die Gesellschaft in Bezug auf unseren Konsum polarisiert hat.

Und wie hat sich Konsum eigentlich in den vergangenen 50 Jahren in Deutschland verändert?

Auch das lässt sich sehr gut am Beispiel von Mode verdeutlichen: Im Vergleich zu den 1970er Jahren können sich die Menschen heute für weniger als 5% ihres Einkommens, also mit weniger als der Hälfte des Aufwandes, die fünffache Menge an Kleidung leisten. Damit haben sie aber auch den Respekt und die Wertschätzung für Kleidung verloren. Aus Kleidungsstücken sind Klamotten geworden. Nach eigenen Aussagen sortiert fast jeder Zweite den Großteil seiner Kleidung innerhalb von weniger als einem Jahr aus. Da man in Deutschland Sommerkleidung nur im Sommer und Winterkleidung nur im Winter tragen kann, bedeutet das im Klartext, dass Kleidung nur noch eine Saison getragen wird. Jedes fünfte Kleidungsstück wird nur noch einmal oder maximal zweimal getragen. So hat sich der globale Konsum an Kleidung seit 1960 verneunfacht. Seit 1980 hat er sich versechsfacht. Allein zwischen 2000 und 2015 hat sich die Menge an verkaufter Kleidung noch einmal verdoppelt.

Welche Tipps hast Du, um seinen Konsum möglichst sinnvoll zu gestalten?

Ein allererster Schritt könnte sein, sich vor jedem Lustkauf die folgenden zwei Fragen zu stellen: „Will ich diese Sache tatsächlich besitzen und nutzen, oder will ich sie nur gerne kaufen?“ und „Deckt diese Sache bei mir einen nachvollziehbaren Bedarf, oder reguliere ich mit dem Kauf dieser Sache nur meine Stimmung?“. Wenn man sich diese beiden Fragen ehrlich beantwortet, wird sich der Kauf einiger Dinge höchstwahrscheinlich sofort als sinnlos offenbaren.

ein Artikel von
Michael André Ankermüller
Michael lebt in Berlin, beschäftigt sich gerne mit Wirtschafts- und Finanzthemen und arbeitet als Journalist, Blogger, Autor sowie Berater für Digitale Medien. 2014 gründete er das sehr erfolgreiche Blogazine Blog.Bohème.