Sechseinhalb Wochen keine Schule. Bis eben schien es ein herrlicher Freibadsommer zu werden. Damals – ich war 12 und hatte vom Ernst des Lebens allenfalls eine vage Vorahnung – waren die Tage noch hitzige Ewigkeiten. Weil meine Mutter sich um ihre kranke Tante kümmern musste, war der Familienurlaub in diesem Jahr gestrichen, was mich insgeheim freute. Denn ich hatte eine exakte Vorstellung davon, wie meine Ferientage verlaufen würden: Morgens „Captain Future“ gucken, wir hatten gerade Kabelfernsehen bekommen, dann eine Runde mit unserem Irish Setter Freya im Wald drehen – und dann zum Schwimmen. Oder eher: mit bunter Tüte und „Heißer Hexe“ im Schwimmbad abhängen, sportliche Betätigung war damals noch kein Bestandteil meines Tagesablaufs. Einfach nur wochenlanges Hitzefrei, herrlich!
„Wir haben dich dieses Jahr fürs Zeltlager angemeldet“, war der Satz meines Vaters, der mich jäh aus meinen Knabenträumen rüttelte. „In einer Woche geht‘s los, das wird super.“ Ich weiß nicht, ob meine Eltern fanden, dass ich zu viel auf der faulen Haut lag, zu viel Zeit mit den Tieren auf dem Bauernhof meines Opas verbrachte statt mit Gleichaltrigen, oder ob sie einfach mal zwei Wochen kinderfrei haben wollten. Aber ich war fassungslos, dann empört. Jeglicher Protest, jede wütende Träne war zwecklos. Eine Woche – und einen verdammt kurzen Freibadsommer später – brachten meine Eltern mich zum Kolpingjugendbus, der rund drei Dutzend Kinder und Jugendliche nach Bermel, einem winzigen Kaff in der Pfalz, verfrachtete.
Die Tage waren bestimmt von Spüldienst, Dauerregen, Mannschaftsspielen, vor Fett triefendem Großküchenessen, Schikanen der Gruppenleiter – selbst gerade mal 18-jährige Halbstarke – Nachtwache um das Pfadfinderbanner, im Zelt schlafen mit vier miefenden Typen. „Highlight“ war die Fußball-WM in Italien, die wir abends auf einem winzigen Fernseher im Gruppenraum gucken durften. Ich hasste Fußball, noch heute interessiert er mich null. Spoiler Alert: Mein Vater hatte gelogen, es wurde nicht toll, sondern grauenhaft. Dass ich Camping heute, über 25 Jahre später, großartig finde, werte ich als Ergebnis hoher Verdrängungsleistung meiner Psyche. Denn da ich vorher im Gegensatz zu den anderen nicht in einer Pfadfindergruppe war, als „Fremdkind“ mitreiste, dazu eins der jüngsten, fand ich nicht nur keine Freunde, sondern war auch noch totaler Außenseiter, der zuletzt in die Gruppe gewählt wurde, wenn mal wieder irgendein Massenspiel veranstaltet wurden.
Zum Bergfest nach der ersten Woche sollte ausgerechnet ein Fußballturnier stattfinden, passend zum Endspiel der Fußball-WM in Italien. Ich fühlte mich schon Tage vorher wie drei Matheaufgaben plus Blinddarmentzündung an einem Tag – ich war eine Fußballniete. Mal wieder nicht gewählt, wurde ich schließlich unter großem Gejohle einer Gruppe zugeteilt. Zur allgemeinen Enttäuschung der anderen: „Oh nee, nicht den Loser!“ Es war beschämend. Die Spiele übrigens auch: Ich war exakt null Mal im Ballbesitz, nicht mal in Ballnähe und hechelte hinter den anderen her. Im viel zu engen Gegentor stand Gruppenleiter Andreas, Spitzname Duschi, ein aggressiver, viel zu breiter Hüne, der mich eh die ganze Zeit auf dem Kieker hatte.
Als es am Ende zum Elfmeter kam, schrie einer der anderen Leiter vom Rand – meine Blamage hatte Spektakelcharakter, da das Turnier nicht nur von den Lagerteilnehmern, sondern auch noch den Bewohnern aus Bermel begafft wurde. „Das Weichei soll schießen!“, schrie ein Gruppenleiter vom Spielfeldrand. Schlimm, dass ich sofort wusste, wer gemeint war. Mein Herz sackte in die Hose, bis dahin waren ich und meine Grobmotorik einigermaßen erfolgreich unterm Radar gelaufen, und jetzt wurde ich bloßgestellt wie unter Flutlicht. „Willst du mich verarschen!? Der trifft ja nicht mal den Ball!“, schrie Duschi, um sich es sich sogleich anders zu überlegen: „Ich wette zehn Mark, dass du nicht triffst, Spasti!“ Meinte er den Ball oder das Tor? Ich wusste es nicht, aber sein Spruch saß. Ich brachte zwar nur ein leises „Okay“ raus, statt ihn zurück zu beleidigen, das Blut schoss mir ins Gesicht. Wie in Zeitlupe ging ich aufs Tor zu, hörte das allgemeine Geschrei und Gelächter wie durch Watte. Vielleicht würde ich jetzt auch einfach tot umfallen.
Wenn es wirklich einen Fußballgott gibt, dann war er soeben pünktlich in mein rechtes Bein gefahren. Vielleicht war es auch nur die Wut auf Duschi, alle anderen Kinder und überhaupt den verpassten Freibadsommer. Doch ich schoss den Ball hart in die rechte Ecke des Tors, vorbei an dem laut stöhnenden Torwart, das Gejohle stoppte. „Scheiße“, stammelte Duschi, der es nicht fassen konnte, dass das erste Gegentor ausgerechnet von mir kam. Abends nach dem Essen musste er mir zu seiner Schande und unter allgemeinem Beifall den Zehn-Mark-Schein überreichen. Ich war selig, auch weil mein Ansehen im Zeltlager schlagartig gestiegen war – from zero to hero. Ich freute mich sogar über den WM-Sieg Deutschland über Argentinien an dem Abend.
Doch den eigentlichen Triumph erzielte ich, als ich wieder zu Hause war: Ich baute mich nach der Rückkehr nach dem Mittagessen vor meinem Vater auf, zog den in einem Kuvert sorgsam aufbewahrten Geldschein hervor, überreichte ihn feierlich und verkündete: „Papa, ich hab ein Geschenk für dich. Aber du musst mir versprechen, dass ich nie, nie wieder ins Zeltlager muss.“ Atemlos erzählte ich die ganze Geschichte, von dem miefenden Zelt, den fiesen Gruppenleitern, Duschi, dem Hünen, und wie ich es ihm gezeigt hatte. „Okay“, sagte mein Vater, „das verstehe ich. Du musst nie wieder dahin. Aber den Schein behältst Du, den rahmen wir ein.“ Stattdessen steckte ich ihn in mein Sparschwein. Und kaufte ein paar Wochen später, mit ein bisschen Zuschuss meines Vaters, meinen ersten Tennisschläger, um ihm, dem erfolgreichen Amateurspieler, nachzueifern. Aber das ist eine andere Geschichte. Spoiler Alert: Sie verlief länger und glimpflicher als meine Fußballkarriere.