© Clark Tibbs / Unsplash
SOZIALE VERANTWORTUNG

Ein soziales Pflichtjahr ohne Pflicht. Wie kann das funktionieren?

von Isabella Müller-Reinhardt

Es wird immer schlimmer. Pflegeeinrichtungen, Altenheime, Krankenhäuser und Kindertagesstätten leiden unter extremen Personalmangel. Zu viele offene Stellen, kaum Bewerber, zu wenig Auszubildene. Immer mehr soziale Einrichtungen stehen vor einem Kollaps. Die Beschäftigten klagen über zu hohe Belastung und am Ende leiden all die Pflegebedürftigen, Alten, Kranken und Kinder.

Angesichts dieser aussichtslosen Situation macht der Vorschlag, von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier durchaus Sinn. Er hat sich erneut für ein soziales Pflichtjahr ausgesprochen. 

Grundsätzlich klingt die Idee sozial und gerecht. Gerade junge Menschen, könnten sich nach dem Schulabschluss ein Jahr engagieren. Der Gesellschaft und auch vielleicht sich selbst „etwas“ geben. 

Ein Freund von mir ist Arzt. Herzchirurg an einem großen Klinikum. Er meinte letztens, es sei irre, wie das teilweise abläuft. Da kommen 25 -jährige Mediziner in die Klinik, haben außer Schule und Uni noch nichts im Leben erlebt und werden auf teilweise totkranke Patienten losgelassen. Seiner Meinung nach fehle es den meisten an Lebenserfahrung. 

Ich war kürzlich in einer geschlossenen Pflegeeinrichtung zu Besuch. Ich habe die Patienten und Pfleger erlebt und mich im Anschluss gefragt, was wohl die Grundpfeiler für soziale Berufe sind: Empathie, Geduld, Respekt, Menschlichkeit. 

Alles Dinge, die wir grundsätzlich für ein gutes und friedliches Miteinander brauchen. Es schadet nicht zu lernen, wie wir auf fremde Menschen zugehen. Wie wir mit Menschen, die Hilfe benötigen umgehen. Mein Mann sagt noch heute, in dem einem Jahr Zivildienst hat er mehr fürs Leben gelernt als in den Jahren seines Studiums. 

Und ja, ich denke ein soziales Pflichtjahr würde viele Probleme in unserer Gesellschaft lösen und nicht nur die Lücken in sozialen Einrichtungen füllen. Ich störe mich nur an dem „Pflicht“-Teil des Jahres. Ist es fair, Jugendlichen ein Lebensjahr zu „klauen“? Wie viele junge Menschen sind nach der Schule angewiesen Geld verdienen zu müssen. In jedem beliebigen Job ist die Vergütung besser als bei einem sozialen Jahr. Und auch im europäischen Vergleich wären die Bewerber aus Deutschland grundsätzlich ein Jahr älter als die der anderen Länder. Ist das gerecht? 

Ich finde es gut, dass Frank-Walter Steinmeier das Thema aufgemacht hat. Denn dadurch findet ein Diskurs statt. Ein soziales Jahr könnte viele Probleme in Deutschland lösen. Aber einen Zwang halte ich für falsch. Es muss andere Lockmittel geben, junge Menschen für ein soziales Jahr zu begeistern. Zum Beispiel eine faire Bezahlung. Oder vielleicht die Aussicht auf einen Studienplatz. Eine bezahlbare Unterkunft. Eine verkürzte Ausbildungszeit.

Jugendliche müssen sich ein soziales Jahr leisten können. Dann macht die Idee Sinn und ist für alle gerecht. 

ein Artikel von
Isabella Müller-Reinhardt
Isabella Müller-Reinhardt

Die in Madrid aufgewachsene Münchnerin arbeitet seit mittlerweile mehr als zwanzig Jahren als Sportmoderatorin für verschiedene deutsche und englische Fernsehsender. Zu den Stationen Müller-Reinhardts zählen unter anderem ARD, ITV, Sport1, Sky und Arena. Zudem plaudert sie in einem Podcast über „Weiberkram“, schreibt diverse Sportkolumnen und hat mit "Mensch Trainer" im Sommer 2020 ihr erstes Buch veröffentlicht.