Stiefel für die Ewigkeit

Wie Dr. Martens zur Kult-Schuhmarke wurde

von Moritz Weinstock

Schwarze Lederstiefel, über die Knöchel hoch, mit dicker Sohle und oftmals bunten Schnürsenkeln – so kennt man den Klassiker der englischen Schuhmarke Dr. Martens, den 1460. Warum das Unternehmen auch nach über 60 Jahren mit diesem und anderen Modellen so erfolgreich ist, erklärt dir ZASTER.

Früher hatten die Leute keine vollen Kleiderschränke mit Garderoben, die es ihnen erlaubt hätten, zwei Wochen lang jeden Tag anders gekleidet zu sein. Man hatte vieles nur in einfacher Ausführung. Eine Hose, ein paar Schuhe, eine Jacke. Zumindest war das bei der arbeitenden Klasse oft der Fall. Heute tragen wir Klassiker wie die berühmte Levis 501 Jeans aus Stylegründen und nicht, weil es sich damit gut und lange nach Gold schürfen ließe.

Die schwarzen Lederstiefel von Dr. Martens, allen voran der Klassiker 1460, sind ein weiteres Beispiel dafür, dass wir uns doch insgeheim nach zeitlosen und langlebigen Sachen sehnen. Auch sie sind der Idee entsprungen, hart arbeitende Menschen für einen vernünftigen Preis mit solider Ausrüstung zu versorgen. Nur zwei britische Pfund kosteten die Stiefel damals, heute musst du mehr als 100 Euro für ein Paar hinblättern.

Zu teuer? Nun, der Erfolg gibt dem Unternehmen recht. Im vergangenen Jahr konnte der Umsatz um satte 70 Prozent gesteigert werden, wie The Guardian berichtet. Seit dem Geschäftsjahr 2012/2013 haben sich die Einnahmen von Dr. Martens dabei fast verdreifacht, von 160 Millionen auf mehr als 450 Millionen britische Pfund. Das war allerdings nicht immer so, wie der Blick auf die Unternehmensgeschichte zeigt.

Vom Beinbruch zur Schuhsole

Die Geschichte von Dr. Martens ist eine der Zufälle. Sie begann Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland. Genauer: in München. Es war ein Skiunfall und ein gebrochenes Bein, die dazu führten, dass sich der junge Arzt Dr. Klaus Maertens zum eigenen Wohl mit der Entwicklung einer bequemeren Schuhsole beschäftige. Heraus kam die weltweit erste luftgepolsterte Sole. Doch erst als er seinen Prototypen dem Unikollegen, Freund und Mechaniker Dr. Herbert Funk vorstellte, nahm das Projekt „Schuhproduktion“ Fahrt auf.

Das Material (Gummi und Leder) für ihre ersten Eigenkreationen stammte aus alten Militärbeständen. Zu Beginn sind speziell Frauen von den bequemen Schuhen angetan. Über 80 Prozent ihrer mehr als 200 verschiedenen Modelle gehen an weibliche Kunden. Innerhalb nur eines Jahrzehnts gelingt ihnen der Aufstieg zu einer respektablen Schuhmanufaktur. Trotzdem gilt erst das Jahr 1959 als Schlüsselereignis in der Entstehung der späteren Kultmarke Dr. Martens. Die beiden Gründer wagen nun den Weg ins Auslandsgeschäft und präsentieren ihre neuartigen Schuhe samt der eigenartigen Schuhsole in fremdsprachigen Magazinen.

England und die Punks

Jetzt wird das englische Traditionsunternehmen Griggs Footwear, das seit 1901 für hochwertige und langlebige Arbeiterschuhe steht, auf sie aufmerksam. Schnell erkennen Bill und seine Brüder Ray und Collins, die die Firma bereits in dritter Generation führen, das Potenzial der deutschen Luftpolstersohle. Verträge werden unterzeichnet und Griggs wird exklusiver Lizenznehmer.

Am 1. April 1960 erblickt der heute allseits bekannte 1460, dessen Ziffern auf das Erscheinungsdatum zurückzuführen sind, das Licht der Schuhwelt – in schwarzer Lederausführung samt hohem Schaft, acht Schnürsenkel-Ösen und den charakteristischen, gelben Nähten. Bill Griggs tauft die Neukreation auf den Namen Dr. Martens AirWair, gründet das gleichnamige Tochterunternehmen und bewirbt den neuen Schuh mit dem handgeschriebenen Slogan „with bouncing soles“.

Zunächst werden die Schuhe für zwei Pfund verkauft und vorwiegend von Postmitarbeitern, Polizisten und Fabrikarbeitern getragen. Dann passiert das Unplanbare: Gesellschaftskritische Subkulturen wie Punks und Skinheads entdecken den funktionalen und robusten Schuh in den 1970er-Jahren für sich. Mit ihnen lässt sich wunderbar auf den moralischen und sozialen Werten der englischen Gesellschaft herumtrampeln – und sie halten lange. Auch Rocklegende Pete Townshend von The Who war Fan:

Aus Schuh wird Protest

Das Interesse der jungen, wilden, musik- und kunstaffinen Rebellen an „Docs“, wie sie auch genannt werden, wurde immer größer. Dabei hat Dr. Martens im Grunde keinen nennenswerten Anteil daran, zum Inbegriff und Statussymbol von Querdenkern und Individualisten geworden zu sein – auch wenn sie sich heute damit brüsten. Aber Qualität und Robustheit sind eben auch Werte, die dieser rebellierenden Gesellschaftsschicht wichtig sind.

Der Erfolg der Marke hält bis zum Jahr 2000 an. Dann brechen die Verkäufe kurz nach dem 40. Geburtstag von AirWair so stark ein, dass nach drakonischen Sparmaßnahmen alle 16 Werke in England geschlossen werden und die Produktion nach Asien ausgelagert wird. Mehr als 1000 Mitarbeiter verlieren ihren Arbeitsplatz. Immerhin gelingt es Griggs Footwear, ihr Tochterunternehmen vor dem Bankrott zu bewahren. Es dauert drei ganze Jahre, bis sich die Marke von dem Millennium-Schock erholt hat.

Bunt beschmiert, farbenfroh, vegan

Ab 2003 gelingt es Dr. Martens, international renommierte Künstler und Designer wie beispielsweise Vivienne Westwood und Jimmy Choo für Kooperationen zu gewinnen. Sie gestalten den 1460 in vorher nie dagewesener Weise neu und verhelfen der Marke so zu neuem Aufschwung. 2007 siedelt sich die erste Produktionsstätte wieder in England an und vertreibt eine neue „The Vintage Collection“, die an die alten Zeiten erinnern soll und mit dem Qualitätssiegel „made in England“ wirbt.

Als wären sie nie weg gewesen, erstürmen die legendären Boots nicht nur die Verkaufsregale in den Schuhläden, sondern auch die Catwalks der Welt und Modeplattformen im Internet. Vom Punk bis zum Laufstegmodell – jeder trägt wieder Docs. 2013 kommt es zum großen Übernahmeangebot der britischen Private-Equity-Gesellschaft Permira, die Dr. Martens für 300 Millionen Dollar an sich reißt.

Heute geht es dem Unternehmen so gut wie nie. Die Umsätze haben sich, wie eingangs erwähnt, seit dem Geschäftsjahr 2012/2013 fast verdreifacht, was sicherlich auch mit Weiterentwicklungen wie Plateau-Schuhen, Sandalen und „veganen“ Docs zu tun hat, die statt Leder und natürlichem Kautschuk für die Gummisohle überwiegend synthetische Materialien verwenden.

Abermals scheinen Docs Teil einer politischen Bewegung werden zu wollen. Wie heißt es so schön: Punks not dead!

ein Artikel von
Moritz Weinstock
Moritz hat Kommunikationswissenschaften in Wien studiert und seine Leidenschaft fürs Schreiben mit nach Berlin gebracht. Nach lehrreichen Jahren als Redakteur bei einem Motorradmagazin, ist er nun als Channel-Editor für ZASTER tätig. Sein Zugang zur Wirtschaftswelt: er lebt auf zehn Quadratmetern und spart, was das Zeug hält.