Diagnostik
Das griechische Wort Gnosis für Wissen ist die Grundlage für nur wenige Wörter im Deutschen, die daraus abgeleitet sind. Die Diagnostik, im Wortstamm vom griechischen „das Unterscheiden“ dient heute meist dazu, den Befund eines Krankheitsbildes zu beschreiben. Wir können es aber auch auf den Patienten Deutschland anwenden. An Pandemie und Krieg erkrankt, zeigt sich der Patient widerstandsfähiger als gedacht. Die schwere Rezession nach der Infektion bleibt vorerst aus und die Werte bei Auftragseingängen in Deutschland sind diese Woche im Vergleich zum Vormonat überraschend gestiegen. Die Energiekrise scheint mit neuen Tiefstständen bei Gas- und Strompreisen vorerst überwunden und der Patient zeigt in der Fieberkurve des DAX neue Jahreshochs. Kurzum, die Analyse des Krankheitsbildes Ende letzten Jahres erscheint wie eine Fehldiagnose, wenn man den aktuellen Zustand der deutschen Industrie begutachtet. Die meisten Investoren halten dies noch für eine kurze Besserung vor dem erneuten Rückfall. Ich glaube, dass man aber an dieser Diagnose zweifeln darf. Kommen wir also zu meiner Prognose:
Prognostik
Das griechische Wort für Vorauswissen ist der etymologische Ursprung. Aber voraussichtlich interessiert Sie dies weniger als meine Marktprognosen. Vielleicht sollte ich Sie an dieser Stelle vorwarnen, denn ich habe gemerkt, dass der Markt sich nicht immer an meine Prognosen hält. Dennoch möchte ich hier eine wagen. Sowohl die europäische Notenbank EZB als auch ihr US-Pendant, die FED, werden im März beide die Zinsen um jeweils 0,5% erhöhen. Die Börsen werden darauf zwei Tage verschnupft reagieren, um dann zumindest in Europa zu neuen Höchstkursen anzusetzen. Die US-Börsen dagegen laborieren etwas länger, aber können sich zumindest auf ihrem Niveau halten. Ich freue mich darauf, Kursrücksetzer rund um die Notenbanksitzungen zu kaufen und harre der Dinge bis zum Frühsommer. Dann überlegen wir uns wieder gemeinsam, ob Börse oder Baggersee die richtige Wahl ist, und bewerten die Lage an den Kapitalmärkten neu. Wenn Sie andere Prognosen haben, dann her damit, denn davon lebt die Börse. Ich für meinen Teil beharre nicht darauf, dass meine Voraussicht korrekt sein muss und agiere daher auf Veränderungen agnostisch.
Agnostik
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“, würde Sokrates wohl sagen. In diesem Sinne lässt sich einerseits in höhere Philosophie einsteigen oder einfach nur in naives Verhalten. So wie Olaf Scholz, der manches nicht mehr weiß bei seinem Cum-Ex-Terminen mit Warburg. Oder die DWS, die diese Woche wieder einmal ihre ESG-Aussagen in einer Unterlassungserklärung einkassieren musste. Oder die Credit Suisse, die nicht weiß, ob sie ihre Bilanz diese oder nächste Woche veröffentlichen kann oder will. Oder Rheinmetall, die eine Waffenfabrik direkt in der Ukraine planen, um Transport- und Produktionskosten zu sparen. Oder Volkswagen, die ihre Batteriefabrik jetzt nicht in Europa, sondern in den USA bauen wollen, weil es da Geld aus dem US-Fördertopf gibt. Man muss nicht alles begreifen. Apropos, wenn Sie in der Lage sind, Objekte allein durch Tasten und Anfassen zu erkennen –ohne visuelle Kontrolle – dann verfügen Sie über das vierte und noch fehlende Wort aus der „Gnosis“-Familie: Die Stereognostik. Was für ein passendes Ende für eine Kolumne, die sich selbst „Greiffbar“ nennt.
Ihr Volker Schilling