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Armutsschere

Armut in Deutschland: Die Schere wird immer größer

von Pauline Brinkmann

Deutschland galt lange Zeit als das Land des Mittelstandes. Allerdings wurde in den vergangenen Jahren immer häufiger eine zunehmende Spaltung zwischen wohlhabenden und sozial schwachen Menschen diskutiert. Wir fragen uns im Laufe dieses Artikels also: Geht die Schere zwischen armen und reichen Menschen in unserem Land immer weiter auseinander?

Besonders gerne wird bei dieser doch sehr kontrovers diskutierten Frage der Gini-Index als Orientierungsmaßstab herangezogen. Der Gini-Index oder auch Gini-Koeffizient genannt, ist ein statistisches Maß, das zur Darstellung von Ungleichverteilungen verwendet wird. Er kann einen beliebigen Wert zwischen 0 und 100 Punkten annehmen. Ein Wert von 0 bedeutet absolute Gleichheit, ein Wert von 100 absolute Ungleichheit. In Deutschland erzielte er im Jahr 2020 genau 34,4 Punkte, während es im Jahr 2019 noch lediglich 29,7 Punkte waren. Betrachtete man die vergangenen Jahrzehnte, so fällt auf, dass er seit den 1990ern konstant angestiegen ist und seit 2009 stets zwischen 29 und 31 Punkten schwankte. Ein derartiger Sprung wie der von 2019 auf 2020 ist mithin eher außergewöhnlicher Natur. Grund dafür ist die Coronapandemie, die gerade die Menschen, die sowieso schon in prekären Lebenssitutation lebten, besonders hart traf.

Diesen Eindruck spiegelt auch der diesjährige „Armutsbericht der Bundesregierung“ wider, so heißt es hier, dass bis Ende August 2020 knapp 15,5 Millionen Haushalte in unserem Land Einkommenseinbußen hinnehmen mussten. In diesem Fall waren vor allem Gering- und Normalverdiener betroffen. Knapp 30 Prozent der Befragten mit besonders niedrigen Einkommen beklagten indes, dass sie seit Beginn der Pandemie Probleme hatten ihre laufenden Ausgaben zu decken.

Zudem sahen sich gerade Langezeitarbeitlose mit einem in großen Teilen verschlossenen Arbeitsmarkt konfrontiert. Schockierend muten auch die Zahlen aus der Gastromomiebranche an, so gab es bei den hier Beschäftigten einen Anstieg der Arbeitslosenzahlen um etwa 80 Prozent. Auch die Kulturbranche hat erheblich unter den Maßnahmen gelitten, so beziffert ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages für das Jahr 2020 in der Kultur- und Kreativwirtschaft einen Umsatzrückgang in Höhe von insgesamt 22,4 Milliarden Euro (!).

Hilfsangebote wie das Kurzarbeitergeld haben zwar in vielen Bereichen Schlimmeres verhindert und eine Art der sozialen Abfederung bewirkt, nichtsdestotrotz wurde laut der Präsidentin des Sozialverbands VdK Verena Bentele, die deutliche soziale Schieflage in Deutschland durch die Coronapandemie noch weiter verstärkt. Grund dafür sind vor allem die zusätzlichen Ausgaben wie: Schutzmasken, Desinfektionsmittel und Corona-Selbsttests.

Doch ab wann ist man tatsächlich armutsgefährdet?

In Deutschland gilt man als armutsgefährdet, wenn man weniger als 60% der Medianeinkommen erhält. Wichtig ist es, dass man im Zusammenhang mit Armut zwischen der absoluten und der relativen Armut differenziert. Unter absoluter Armut wird im Allgemeinen das Fehlen der finanziellen Ressourcen zur Befriedigung der physischen Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Wohnung, medizinische Grundversorgung verstanden. 

Grundsätzlich ist der deutsche Sozialstaat so konzipiert, dass niemand in existenzieller, respektive absoluter Armut leben muss, allerdings fallen auf Grund bürokratischer Hürden immer häufiger Menschen durch das Raster. Bei der Bewertung des absoluten Minimums spielen Faktoren wie der gesellschaftliche Entwicklungsstand und die Möglichkeiten zur Sättigung von Grundbedürfnissen eine entscheidende Rolle. Spricht man von relativer Armut, so versteht man darunter in der Regel die Einkommensarmut, sprich die Möglichkeit der sozialen Teilhabe.

Hier wird der einzelne Bürger im Vergleich zu den anderen Mitgliedern der Gesellschaft betrachtet. Infolgedessen wird analysiert, inwiefern die Teilhabemöglichkeit am „normalen gesellschaftlichen Leben“ besteht, sprich ob die Mitgliedschaft in Vereinen, das Nutzen von öffentlichen oder privaten Verkehrsmitteln oder der Besuch von Kulturveranstaltungen finanziell möglich ist.  Grundlage dieser Bewertungen bilden vornehmlich die Einkommensdaten, die unter anderem auf dem Sozioökonomischen Panel (SOEP) beruhen.

Das SOEP ist die deutschlandweit größte und zudem am längsten laufende Langzeitstudie. Im Rahmen dieser werden seit dem Jahre 1984 jährlich knapp 30.000 Personen in ungefähr 15.000 Haushalten befragt. Die Studienteilnehmer sind gleichbleibend, um langfristige gesellschaftliche Trends und Entwicklungen von Lebensläufen analysieren zu können.

Als Datengrundlage dienen die monatlichen Netto- und Bruttoeinkommen der entsprechenden Haushalte. Damit die Ergebnisse auch repräsentativ sind, werden die Nettoeinkünfte in Äquivalenzeinkommen umgerechnet, dies ermöglicht einen sachgerechten Pro-Kopf-Vergleich. Auf Basis dieser Zahlen werden dann sowohl die Durchschnittseinkommen als auch die Medianeinkommen berechnet. Sofern die Durchschnittseinkommen höher als die Medianeinkommen sind, kann dies als erster Indikator für den Grad der Einkommensungleichheit angesehen werden.

Der Datenreport 2021 wertet unter anderem die Einkommensdaten aus den Jahren 1995 bis 2018 aus. Laut diesem lag im Jahre 2018 die Armutsgefährdungsquote, sprich der Anteil der Personen, die als armutsgefährdet gelten bei 15,8%. Damit ist für ungefähr jede sechste Person in unserem Land die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nur eingeschränkt möglich. Dies belegt auch eine kürzlich veröffentlichte Studie des Institutes für Deutsche Wirtschaft.

Doch welche Vermögensstrukturen bestehen in Deutschland?

Die Vermögenssteigerungen der letzten Jahre, sind zum Teil auf Wertsteigerungen bei Immobilien und auch Wertpapiere zurückzuführen. Zudem ließ sich feststellen, dass die Betriebsvermögen mit Abstand den größten Posten ausmachen, denn diese liegen im Schnitt bei 266.816 Euro. Der Wert von selbstgenutztem Wohneigentum liegt durchschnittlich bei 171.997 Euro und betrifft 39% der Bevölkerung.

Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Der sprunghaft gestiegene Gini-Index gibt uns einen ersten Eindruck von den Auswirkungen der Pandemie auf die sozialen Strukturen in unserem Land. Indessen sind die Folgen der mangelhaften Bildung innerhalb der letzten zwei Jahre, die vor allem sozial schwache Familien betraf, auf lange Sicht noch nicht abschätzbar. Unter Anbetracht der Tatsache, dass Bildung nach wie vor als der Schlüssel zu den höheren Einkommensschichten gilt, könnte die soziale Mobilität durch die Coronakrise erheblich gebremst worden sein, was eine Ungleichheit verstetigen würde.

Doch wagen wir einen Blick in die Zukunft, wo entwickelt sich Deutschland hin?

Bereits der in diesem Jahr veröffentlichte Armutsbericht der Bundesregierung zeigte, dass 2019 in Deutschland knapp zwei Millionen Jobs vom Anstieg des gesetzlichen Mindestlohns profitieren durften. Zudem sank der Anteil der sogenannten Niedriglohn-Beschäftigten im Jahre 2018 auf den niedrigsten Wert seit mehr als zehn Jahren. Dies zeigt, dass der Mindestlohn und damit auch nie von der neuen Regierung angekündigten Erhöhung desselben vor allem für Geringverdiener einen Ausstieg aus dem Neidriglohnsektor ermöglicht. Trotzdem gilt mit 21,7 Prozent weiterhin noch gut jeder fünfte Arbeitnehmer in Deutschland als Niedriglöhner.

ein Artikel von
Pauline Brinkmann
Pauline studiert in Potsdam und Lausanne Rechtswissenschaften. Ihr besonderes Interesse gilt jedoch nicht Mietverträgen, sondern politischen und gesellschaftlichen Prozessen.