Leben ohne Bargeld

Nur Bares ist Wahres

von Marcus Schwarze

Finanzexperten prognostizieren eine Zukunft ohne Scheine und Münzen. Unsere Autorin will wissen, wie es sich mit einem leeren Portemonnaie lebt. Ein Selbstversuch.

Tag 1: Das könnte eine teure Woche werden

Soll ich meinen Selbstversuch mit Schulden starten? Seit einer Stunde warte ich auf den verspäteten Zug gen Hamburg und würde mir die Wartezeit gern mit einer Kugel Pistazieneis versüßen. Doch auf dem Schild des Verkäufers prangen in dicken Lettern zwei Worte, die ich in den kommenden Tagen noch öfter lesen werde. „Cash only!“ Meine Mitreisende will mir 1,50 Euro leihen, doch ich entscheide mich gegen Schummeln und Schulden. In der Bahnhofsbuchhandlung finde ich Ersatzbefriedigung: Weil Kartenzahlung hier erst ab zehn Euro möglich ist, muss ich zu meinem Eis am Stiel noch ein britisches Modemagazin packen. Das könnte eine teure Woche werden! „ICE, ICE, Baby“ summe ich vergnügt, als der Zug einfährt – Kreditkarten sind hier gern gesehenes Zahlungsmittel.

Tag 2: Kreditkarte = Konsumfalle

Eigentlich spare ich richtig viel Geld, seit ich zuhause arbeite und mittags koche. Doch heute ist so viel zu tun, dass ich meine mobile Kantine vorfahren lasse. Praktisch ist nicht nur die Lieferung bis zur Haustür, sondern auch das digitale Bezahlsystem: Nur zwei Klicks, und schon wird meine Kreditkarte belastet. Weil ich nicht weiß, ob ich nochmal rauskomme, ordere ich direkt auch ein Abendessen und – was soll der Geiz – eine überteuerte Cola für die Nachtschicht. Jetzt, wo ich nicht mehr bar bleche, sitzt das Geld locker. Diese Erkenntnis belegt auch eine Studie von George Loewenstein. Der Verhaltensökonom erklärt seine Forschungsergebnisse so: „Kreditkarten betäuben den Schmerz des Bezahlens auf wirkungsvolle Weise. Man fühlt sich nicht, als müsse man sich von etwas trennen.“

Tag 3: Spenden? Spar ich mir!

Dass man mit virtuellem Portemonnaie zum Verschwender wird, gleicht sich an anderer Stelle womöglich aus: Der Stress hält an, also bestelle ich mir auch am nächsten Tag ein Lunch nach Hause. Als der Lieferant mir einen Falafel-Teller zur Tür reinreicht, kann ich ihm kein Trinkgeld geben – hätte ich zwar vorab digital machen können, habe ich heute aber irgendwie vergessen, Mist! Auch der Straßenmusikant, dem ich sonst immer einen Euro in den Hut werfe, geht diese Woche leer aus. Wer weiß, vielleicht haben wir ja bald schwedische Verhältnisse. Dort sind selbst Verkäufer von Straßenmagazinen mit EC-Kartenlesegeräten unterwegs. In der Post finde ich heute die Einladung zu einer Taufe. Zum Glück ist der Gottesdienst erst nächsten Monat, denn was wäre peinlicher, als den Klingelbeutel in aller Stille weiterzureichen?

Tag 4: Wer das Fünfzig-Cent-Stück nicht ehrt …

Womöglich flattern bald einige Bußgeldbescheide bei mir ein: Während ich per App bequem mein Busticket zahlen kann, muss ich beim Parkticket passen! Zwar kann ich mich für eine Bezahlmethode per Handy registrieren, aber bis eine dazu benötigte Vignette in meinem Briefkasten landet, ist mein Bargeldlos-Versuch längst vorbei. Überhaupt stoße ich auf die größten Hindernisse, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin: „So ein Scheiß“, verfluche ich mein Experiment, weil ich auf dem Rasthof keine Münzen dabeihabe – wer das Fünfzig-Cent-Stück nicht ehrt, dem bleibt der Toilettengang verwehrt.

Tag 5: Endlich flüssig dank Discounter

Mein geplanter Großeinkauf fällt klein aus: Zwar sind hier sämtliche Kartenzahlungen möglich, aber mir fehlt eine Münze für den Einkaufswagen, und alle Leih-Chips an der Kasse sind bereits vergeben. In anderen Ländern ist es längst üblich, auch Cent-Beträge per Smartphone zu zahlen, dem Bundesbürger fällt es hingegen schwer, sich von seinem geliebten Bargeld zu trennen: Laut einer Studie der Europäischen Zentralbank (EZB) trug der Durchschnittsdeutsche 2016 rund 103 Euro im Geldbeutel mit sich, im Mittel der Eurozone waren es nur 65 Euro. Auch ich leide inzwischen unter der Leere in meinem Portemonnaie und bejahe die Standardfrage der Kassiererin: „Wollen Sie noch Geld abheben?“

ein Artikel von
Marcus Schwarze