Der Schein meines Lebens

Fließbandarbeit für rehbraune Wildlederpumps

von Hannes Lustermann

Im Laufe unseres Lebens bekommen wir diesen einen Schein, diesen bestimmten Betrag. Den uns jemand schenkt, den wir finden, gewinnen oder den wir jemandem abluchsen – und an den wir uns für immer erinnern, weil er uns gerettet, berührt oder beschämt hat. Hier erzählen regelmäßig Menschen die Geschichte vom Schein ihres Lebens.
Heute: Die pensionierte Biologielehrerin Renate P. aus Haan (Nordrhein-Westfalen) erzählt von ihrem ersten selbst verdienten Geld, für das sie in der Nachkriegszeit harte Arbeit am Fließband geleistet hat.

„Ich bin ein Kind der Nachkriegszeit. Aufgewachsen zwischen Soldaten und Ruinen prägte der vergangene Krieg meine frühen Kindheitserinnerungen. Mein Vater, ein guter Landwirt mit eigenem Bauernhof, wurde im zweiten Weltkrieg eingezogen und geriet anschließend in Kriegsgefangenschaft. Meine arme Mutter musste ganz alleine mit ihren vier Kindern von unserem Bauernhof fliehen und anderswo komplett neu anfangen. Dabei konnte sie nur die allernötigsten Habseligkeiten mitnehmen. Schließlich fand meine Mutter eine neue Beschäftigung bei einem Bauern in Haan (Nordrhein Westfalen) und wir als Familie eine neue Heimat. Dort wuchs ich als junges Mädchen zwischen Ruinen, Soldaten und kleinen Dorfhäusern auf. Die Tragik für meine Eltern enorm. Wir hatten keinen Kontakt zu unserem Vater. Erst einige Jahre später geschah dann ein Wunder: Meinem Vater gelang es, herauszufinden wo wir waren. Er wurde freigelassen und unsere Familie war wieder vereint.

Unsere Eltern gaben in dieser harten, aber dennoch glücklichen Zeit ihr Bestes, uns unsere Wünsche zu erfüllen. Die meisten Dinge waren jedoch einfach zu teuer und zweitrangig. Doch auch in dieser Zeit hatte man als heranwachsendes Mädchen heimliche Wünsche. Besonders die neue Mode, die ich in den Schaufenstern beobachtete, sah so viel schöner aus. Das Wirtschaftswunder der 60er Jahre kam mir dabei zu Hilfe. In Fabriken suchte man dringend Mitarbeiter, die Konjunktur brummte und es gab Arbeit wie am Fließband.

Aus Träumerei wurde Tatendrang: Meine beste Freundin und ich wollten die Schulferien nutzen, um uns etwas Geld dazu zu verdienen. Tatsächlich leisteten wir dann auch Fließbandarbeit in der Firma Höhn&Höhn. Auch wenn wir noch nie zuvor gearbeitet hatten und erst 14 Jahre alt waren, ging man nicht zimperlich mit uns um. Wir schufteten in Akkordarbeit. Ich merkte ganz schnell, dass das Fließband nichts für mich war: Die Arbeit war sehr eintönig, ich fühlte geistige Leere und war gegen Ende einer Schicht immer sehr erschöpft. Dennoch möchte ich diese Erfahrung nicht missen, denn es hat mir geholfen zu verstehen, wie die Arbeitswelt funktioniert.

Nach zwei Wochen bekam ich meinen Lohn ausgezahlt. Ich kann mich noch genau an das Gefühl erinnern, als so junges Mädchen mein selbst verdientes Geld zu besitzen. Die Scheine in meiner Hand waren wie ein Schatz, der beschützt werden musste. Nun durfte ich damit machen was ich wollte. Ich war richtig stolz auf mich. Nach dem Schlendern durch die Einkaufsstraße entschied ich mich, meinen Lohn in ein paar rehbraune Wildlederpumps zu investieren, auf die ich schon lange ein Auge geworfen hatte. Jedes mal, wenn ich aus der Schule nach Hause ging, lachten mich diese Schuhe aus dem Schaufenster an. Das Wildleder war richtig fein verarbeitet und die rehbraune Farbe machten die Pumps unwiderstehlich. Als ich mit meiner Einkaufstüte aus dem Geschäft ging, hatte ich ein noch nie da gewesenes Gefühl: Ich fühlte mich beschwipst von dem Glück, meine eigenen Schuhe von meinem ersten Gehalt gekauft zu haben! Ich war so unglaublich aufgeregt, als ich mit den Pumps zu Schulbeginn in meine Klasse kam. Ich wollte sie gar nicht mehr ausziehen und habe mich gefühlt wie eine glamouröse Filmdiva aus einem der alten Schwarzweißschinken. Am Ende war sogar noch Geld zum Sparen übrig.

Im Zuge meiner Arbeit lernte ich, wie wertvoll selbst verdientes Geld ist und dass ich nie wieder am Fließband stehen werde. Nach dem Abitur entschied ich mich zu studieren und wurde Biologielehrerin. Ich habe mich stets engagiert, jungen Menschen zu vermitteln, welchen Stellenwert geistig anspruchsvolle Arbeit hat.“

ein Artikel von
Hannes Lustermann