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Wirecard: Schneeballsystem 4.0?

von Marcus Lucas

ZASTER-Kolumnist Leonhard Fischer stellt sich im Wirecard-Drama eine Frage: Wieso hat hier eigentlich das komplette System von Regulatoren, Aufsichtsräten und Wirtschaftsprüfern versagt?

Seit Jahren tut sich Deutschland schwer damit, neue Unternehmen zu finden, die digitale Zukunftsmärkte erfolgreich besetzen und dann auch noch groß genug für den Aktienindex DAX sind.

Da kam Wirecard gerade recht. Ein junges Fintech, schnell wachsend und führend in digitalen Zukunftsmärkten. Das schien genau das richtige Facelifting für den in die Jahre gekommenen Index zu sein und wurde daher mit Begeisterung aufgenommen. Schnell stieg der Börsenwert der jungen Firma auf über 20 Mrd Euro.

Dann kam vor über eineinhalb Jahren ein Bericht in der Financial Times über Irregularitäten in der Buchhaltung. Damit nahm eine Tragödie ihren Lauf, die seit Donnerstag viele Verlierer kennt. Und die, was für die Betroffenen besonders schlimm ist, immer noch nicht aufgeklärt wurde.

Es ist ja bis heute noch nicht einmal klar, wer eigentlich wen betrogen hat. Wurde das Unternehmen um viel Geld erleichtert, das es verdient hatte, oder waren die diesem Geld zugrunde liegenden Umsätze und Gewinne nur reine Luftbuchungen?

Der Unterschied ist wichtig. Im ersten Fall gibt es noch eine Überlebenschance, denn zumindest würde es ja stimmen, dass das Unternehmen mit seinem Geschäftsmodell viel Geld verdienen kann. Im zweiten Fall hingegen wäre Wirecard kein modernes Fintech, sondern nur ein modernes Schneeballsystem, eben ein Schneeballsystem 4.0.

In dem Falle müssten sich die meisten, ob Anleger, Gläubiger oder Banken, wohl leider darauf einstellen, dass von dem Unternehmen kaum viel mehr als die Erinnerung bleiben könnte. Deshalb ist es ein Unding, dass wir immer noch nicht wissen, was wirklich passiert ist.

Leider spricht im Moment viel mehr für die Theorie des Schneeballsystems. Es gibt keine Sicherheit vor Betrug. Unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ist im Prinzip auf Vertrauen aufgebaut, und so wird es immer wieder zu solchen Fällen kommen.

Was Wirecard so besonders macht, ist nicht einmal die Größe des Betruges, von wem auch immer. Nein, auch auf diesem Gebiet hat es schon mehr gegeben. Vielmehr ist es ist der merkwürdige Zeitablauf, der einen stutzig macht und mit Sorge füllen muss.

Wie gesagt, vor Betrug ist niemand gefeit, aber dass über anderthalb Jahre nach dem FT-Artikel erst klar wird, dass Bargeld in der Höhe von 1,9 Milliarden Euro – also dem gesamten Eigenkapital – entweder nie existiert hat oder mysteriöserweise verschwand, ist ziemlich einmalig. Das wird, so ist zu fürchten, Wirecard und den Verantwortlichen einen Eintrag in die Geschichtsbücher sichern.

Fangen wir mit dem Regulator, also BaFin und EZB, an. Jede Bank in Deutschland muss inzwischen die Farbe ihrer Toiletten mit dem Regulator abstimmen, und Wirecard spielt mal eben so mit knapp 2 Milliarden Monopoly-Geld, ohne das in all der Zeit keiner etwas mitkriegt? Könnte es daran liegen, dass etablierte Banken heute völlig überreguliert sind, während bei so manchem Fintech die Augen viel zu lange geschlossen bleiben?

Was genau der Aufsichtsrat des Unternehmens gemacht hat, entzieht sich meiner Erkenntnis. Aber ich fürchte, was es auch immer es war – man hätte es auch unter dem Einfluss von Schlaftabletten tun können.

Wenn es so wäre, bedürfte es dringend einer Korrektur. Gleiche Regeln für alle. Was genau der Aufsichtsrat des Unternehmens gemacht hat, entzieht sich meiner Erkenntnis. Aber ich fürchte, was es auch immer es war – man hätte es auch unter dem Einfluss von Schlaftabletten tun können. Deutschland wird sich wohl oder übel Fragen zu seiner Governance in Unternehmen gefallen lassen müssen.

Und dann wären da die Wirtschaftsprüfer. Sie sind die erste und wichtigste Verteidigungslinie gegen Betrug und Manipulation in einer simplen, aber zentralen Frage: Stimmen die Zahlen in der Bilanz? Das ist gar nicht so einfach. Mit der Globalisierung und der zunehmenden Komplexität der Unternehmen ist die Erstellung einer korrekten Bilanz eine Herkulesaufgabe, und es gibt viel Raum für Interpretationen oder gar Mogeleien.

Darum kommt den Wirtschaftsprüfern so eine große Bedeutung zu. Doch auch hier ist bei Wirecard etwas besonders. In dem ganzen Drama ging es um die einfachste Position in der Bilanz, die Cash-Position. Hatte das Unternehmen 1,9 Milliarden auf dem Konto oder nicht? Eigentlich sollte das nicht so schwer zu überprüfen sein. Damit sind wir wieder bei der Frage vom Anfang. Wäre das Geld in der jüngsten Vergangenheit gestohlen worden, ist das eine Sache. Schlimm genug, wie das passieren konnte, aber wie gesagt: Letztlich ist niemand gegen kriminelle Energie gefeit.

Hat es dieses Geld hingegen nie gegeben, dann liegt die zentrale Frage auf der Hand. Warum waren Regulatoren, der Aufsichtsrat und insbesondere die Wirtschaftsprüfer in den anderthalb Jahren nach dem ersten FT-Artikel nicht in der Lage, einen Milliarden-Kontostand zu überprüfen?

Die Antworten, wenn wir sie denn mal endlich kriegen, werden nicht nur über das Schicksal von Wirecard (oder dem, was davon übrig bleibt) entscheiden.

ein Artikel von
Marcus Lucas